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Der italienische Faschismus -

von den Anfängen bis zu den Lateranverträgen




Inhalt

O. Einleitung

I. Italien 1914

II. Der Weg zum Krieg

1. Die Interventisti

2. Mussolini und der erste fascio

3. Die Bürgerlichen und der Kriegseintritt

III. Der Krieg

IV. Die Früchte des Sieges

V. Die Reaktion der Rechten

VI. Die Wirtschaftskrise

VII. Mussolinis Werdegang ab 1915

IX. Der Weg des Faschismus an die Macht

X. Von der Regierung zum Regime

XI. Versuch einer Bewertung

XII. Anhang

  • Musssolini - eine Zusammenfassung
  • Abbildungen
  • Nachweis der Abbildungen
  • Literatur, Quellen und Kartenmaterial
  • Museen und Ausstellungen


Verzeichnis der Abkürzungen

(Parteien, Institutionen und Zeitschriften)


DC Democrazia Christiana

DS Der Spiegel

DZ Die Zeit

EKKI Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale

HZ Historische Zeitschrift

IKP Italienische Kommunistische Partei

ISB Internationales sozialistisches Büro

KI Kommunistische (auch: III.) Internationale

PCdI Partito Comunista d´Italia

PNF Partito Nazionale Fascista

PPI Partito Popolare Italiano

PRI Partito Repubblicano Italiano

PSDI Partito Socialista Democratico Italiano

PSI Partito Socialista Italiano

PSU Partito Socialista Unitario

PSRI Partito Socialista Riformista Italiano

QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken

SDAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschland

SDAPÖ Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs

SDAPR Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands

SFIO Section francaise de l´Internationale Ouvrière

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands

UDN Unione Democratica Nazionale

ZK Zentralkomitee



0. Einleitung

Die Hoffnung der kriegführenden Völker, zumindest der Westmächte, mit dem Sieg über die Zentralmächte ebenfalls der Demokratie in Europa zum Siege verholfen zu haben, erwies sich allzu bald als Illusion1). Der Siegeszug der kommunistischen Ideologie konnte zwar eingedämmt werden, nur das Russische Reich und die Mongolische Volksrepublik wurden von einer kommunistischen Partei beherrscht, aber in den vom Kriege zerrütteten europäischen Gesellschaften nahm der Einfluß linker revolutionärer Ideologien und Gruppen bzw. Parteien stark zu.
Seit Kriegsende war aber auch eine gefährlicher werdende Gegentendenz in ganz Europa festzustellen: Der zunehmende Einfluß völkisch-konservativer und rechtsradikaler Gruppen und Bewegungen. Die Machtübernahme der italienischen Faschisten im Oktober 1922, allerdings vorerst innerhalb einer Regierung der parlamentarischen Kollaboration, bewies allen Skeptikern die Stärke dieser Gruppen.
Für die Kommunisten, bzw. die Kommunistische Internationale, war der Sieg der italienischen Faschisten ein Schlag ins Gesicht. Benito Mussolini war es gelungen, die potentielle Klientel der Linken, die Arbeiter und Kleinpächter, mit seinem nationalistischen Pathos an sich zu binden. Fortan war für die Linke jede antikommunistische Position "faschistisch". Der Begriff des Faschismus wurde nun dahingehend erklärt, daß er als neue und sehr effektive Form der bürgerlichen Herrschaft galt.
Diese Faschismus-Definition zieht sich wie ein roter Faden durch die politischen Auseinandersetzungen der vergangenen 70 Jahre. Auch heute ist die Verwendung dieser Definition noch aktuell.
Der Verfasser dieser Arbeit stimmt mit dieser Begriffsbestimmung nicht überein.
Die erste Überlegung war, um die Differenz zur populistisch-linken Definition herauszustellen, Worte wie Faschismus2) oder faschistisch in der italienischen Schreibweise zu schreiben3). Später habe ich mich dagegen entschieden und eine für mich gültige Begriffs-Definition erarbeitet4). Der Faschismus-Begriff
Der grundlegende Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Faschismus wurde von Renzo de Felice gezeigt: "Zwei Welten (Nationalsozialismus und Faschismus), zwei Traditionen, zwei Nationalgeschichten..., die sich so stark unterscheiden, daß es außerordentlich schwierig ist, sie unter einem gemeinsamen Blickwinkel zu betrachten."5)
Ähnlich sah es Hermann Göring: "So kann man wohl sagen, daß der Nationalsozialismus und der Faschismus Geschwister sind, deren Entwicklung durchaus nicht in allen Dingen die gleiche zu sein braucht, die aber niemals das Blut der gleichen Familie verleugnen können."6) Die völlig andere Qualität des Nationalsozialismus negiert meines Erachtens die Bezeichnung Faschismus für das nationalsozialistische Mörder-Regime. Die Verbrechen des italienischen Faschismus will ich in dieser Arbeit nicht verkleinern, im Vergleich - sofern ein Vergleich überhaupt möglich ist - ist für mich die Verwendung des Faschismus-Begriffs für die zwölf Jahre Nazi-Diktatur eine nicht zu vertretende Bagatellisierung7). Ernst Nolte (unabhängig von der berechtigten Kritik an seinen heutigen Positionen) hat das Verdienst, die verschiedenen europäischen Rechtsradikalismen in Beziehung gesetzt zu haben. Fünf Hauptmotive faschistischer Bewegungen treten dabei deutlich hervor:

1. Die Ziele des Regimes sollten auf diktatorischem Wege erreicht werden.
2. Jeder Bürger wurde von der herrschenden Partei in irgendeiner Art und Weise in das System integriert.
3. Das Volk war das Wichtigste, das einzelne Individuum war zu vernachlässigen.
4. Die Verachtung der Linken und die anti-sozialistische Stoßrichtung traten deutlich hervor8).
5. Die starke Gewichtung des Militärs und die Betonung der militärischen Ehre fallen ins Auge.


I. Italien 1914

Der Sommer des Jahres 1914 war für Italien voller politischer Erschütterungen. Im Juni 1914 begannen revolutionäre Massenstreiks, die besonders in der Romagna und in Umbrien in offenen Aufruhr mündeten. Fabriken und Landgüter wurden von Arbeitern und Tagelöhnern besetzt oder geplündert. Jede staatliche Autorität versank in den betroffenen Gebieten im Chaos. Diese revolutionäre Bewegung wurde von Republikanern, unter der Führung Pietro Nennis (bes. in Ancona)1), und der sozialistischen Partei Italiens (PSI), unter der Führung des Herausgebers des Avanti, Benito Mussolini, getragen. Die Arbeiter in den wenigen industriellen Zentren des Landes folgten nur zu einem Teil den Aufrufen der PSI und der Gewerkschaften zur Solidarität2). Ministerpräsident Salandra und König Viktor Emmanuell III3) waren von der Bedrohung des Staates durch diese Landarbeiterrevolte so überzeugt, daß sie die Settimane Rosse durch den Einsatz von 100.000 Soldaten4) gewaltsam niederwerfen ließen.
In diese innenpolitisch äußerst gespannte Situation platzte die Nachricht vom Attentat von Sarajewo vom 28. Juni 1914 und dem harten Ultimatum Österreich-Ungarns an das Königreich Serbien, dessen politische Führung für das Attentat verantwortlich gemacht wurde5). Das Königreich Italien war zu diesem Zeitpunkt mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn im Dreibund verbunden. Allerdings sah dieses Defensivbündnis eine Konsultation aller beteiligter Partner vor Ergreifung politischer oder militärischer Machtmittel vor. Weiterhin sah der Vertrag den Casus foederis lediglich im Falle eines Angriffs auf einen der Vertragspartner vor; für den Fall, daß ein Partner selber aktiv militärisch vorginge, war lediglich eine wohlwollende Neutralität der anderen Partner geplant. Deutschland versicherte Italien weiterhin, daß es an keinem Krieg gegen Großbritannien teilzunehmen brauche6). Somit ergab sich nach den Juliereignissen für Italien folgende Situation:
  • Österreich-Ungarn hatte mit der Nichtkonsultierung Italiens gegen den Dreibundvertrag verstoßen.
  • Italien war daher vertraglich nicht verpflichtet, Österreich-Ungarn zu unterstützen.
  • Die Militärführung des deutschen Reiches hatte Großbritannien in den Krieg mit hineingezogen - ein weiterer Grund für Italiens Neutralität.
  • Weiterhin existierte bereits seit 1902 ein geheimes italienisch-französisches Neutralitätsabkommen7). Aufgrund dieser Sachverhalte entschied sich die politische Führung Italiens konsequenterweise für die Neutralität. Die deutschfreundlichen italienischen Nationalisten sowie weite Kreise des italienischen Militärs traten offen für einen Kriegseintritt auf Seiten der Mittelmächte ein. Für diese Kreise war "der Sieg der deutschen Waffen"8) sicher, und zudem herrschte bereits bei den Nationalisten das Gefühl, nicht abseits stehen zu dürfen. Ein Gefühl, welches u. a. weniger als ein Jahr später zum Kriegseintritt Italiens führen sollte - nur mit anderen Verbündeten. Die Position der PSI war zu diesem Zeitpunkt noch einheitlich. So erklärte sich am 27. Juli 1914 der sozialistische Avanti unter dem Chefredakteur Benito Mussolini eindeutig gegen jeden Kriegseintritt Italiens: "Italien kann und darf nichts zur Ausbreitung des Brandes in Europa tun. Mit dieser Parole sind das Proletariat und die sozialistische Partei bereit, sich mit allen Mitteln zu schlagen". Am 28. Juli war im Avanti zu lesen: "...kein Geheimpakt der gekrönten Häupter könnte das Proletariat dazu bringen, die Waffen im Dienste der Verbündeten (gemeint war Ö-U) zu ergreifen, um ein freies Volk9) zu unterdrücken"10). Am 4. August veröffentlichte die PSI einen internationalistischen Antikriegsappell. Die SPD-Fraktion hingegen stimmte im Reichstag für die Kriegskredite. Dieselbe Situation ergab sich in Österreich-Ungarn für die SDAPÖ und in Frankreich für die SFIO - auch diese sozialistischen Parteien waren aus dem internationalistischen Antikriegslager ausgebrochen und unterstützten die jeweiligen Regierungen, die einen mit der Parole "gegen den Zaren" und die anderen mit der Parole "gegen den/die Kaiser".
    Neun Monate später, am 26. April 1915, schloß der italienische Außenminister Sidney Sonnino als Vertreter der italienischen Regierung ohne offizielle Kenntnis des Parlaments den Londoner Geheimvertrag, der Italiens Kriegseintritt auf Seiten der Entente binnen eines Monats vorsah. Die Ententemächte sicherten Italien Trient, Südtirol, Triest und Dalmatien (ohne Fiume) zu11). Am 4. Mai 1915 kündigte Italien den Dreibundvertrag und am 23. Mai 1915 erklärte Italien der Donaumonarchie den Krieg12). Noch heute wird in Deutschland und Österreich von einem Verrat Italiens am Dreibund gesprochen. Diese Position ist jedoch unhaltbar. Die italienische Regierung hatte sich korrekt an den Wortlaut des Dreibundvertrages gehalten. Die Ereignisse, besonders der deutsche Überfall und die Vorgehensweise in Belgien, zwangen Italien in die Neutralität und entbanden Italien von seiner Bündnispflicht. Wenn schon in diesem Zusammenhang über moralische Werte diskutiert werden soll, dann müßte der Londoner Geheimvertrag betrachtet werden. Das Zustandekommen und der Inhalt widersprachen zutiefst der liberalen und demokratischen Tradition des italienischen Nationalstaates. Wenn Verrat von Seiten der bürgerlichen italienischen Politiker geübt wurde, dann an dem italienischen Volk und an den eigenen liberalen Idealen. Folgende außenpolitische Gründe brachten die führenden politischen Köpfe Italiens zur Überzeugung, daß eine Intervention auf Seiten der Entente für Italien nützlich (sacro egoismo) sei:
    • Das Gefühl der kulturellen Verbundenheit mit dem romanischen Bruder Frankreich (trotz zum Teil schwerer Spannungen vor 1914, Zollkrieg)13).
    • Das Gefühl der alten Feindschaft gegenüber dem "unmöglichen" Verbündeten Österreich-Ungarn.
    • Die Bezugnahme auf die Tradition des Risorgimento.
    • Die wirtschaftliche Abhängigkeit gegenüber den Ententemächten (87% der Kohlelieferungen kamen aus GB), sowie die Abhängigkeit von der britischen und französischen Rüstungsindustrie (z.B. Terniwerke)14)
    • Die totale Seeüberlegenheit Frankreichs und Englands im Mittelmeer (ausgenommen in der Adria und den Dardanellen).
    • Die sich abzeichnende strategische Niederlage der deutschen Angriffsarmeen im Westen seit dem Marne-Debakel.
    • Das Neutralitätsabkommen zwischen Italien und Frankreich von 1902 und das Geheimabkommen von Racconigi zwischen Rußland und Italien vom 24. Oktober 1909, in dem Rußland und Italien ihre Mittelmeer- und Balkaninteressen miteinander abgestimmt hatten.
    • Die Gewinne, die durch das Bündnis mit der Entente greifbar schienen, waren eine besondere Verlockung in den Krieg einzu- treten15).


    II. Der Weg zum Krieg

    1. Die Interventisti

    Im Sommer und Frühherbst 1914 stand die PSI geschlossen hinter der These von der absoluten Neutralität Italiens (im Widerspruch zu dem Dreibundvertrag, der eine wohlwollende Neutralität vorsah). Noch am 20./21. September fand eine gemeinsame Sitzung der Parlamentsfraktion (Fraktionschef Turati)1) und der Parteiführung (Benito Mussolini)2) statt. Ein von Mussolini vorbereitetes Manifest, in welchem der "Interventionismus" der italienischen Nationalisten heftig kritisiert und verurteilt wurde, wurde beschlossen und veröffentlicht.
    Allerdings hatte Mussolini zu diesem Zeitpunkt bereits mit einem Doppelspiel begonnen. Anfang September 1914 kam der deutsche SPD-Politiker Albert Südekum3) nach Italien, um parallel zu den Bemühungen der Wilhelmstraße die italienische Sozialdemokratie in einem pro-deutschen Sinne zu beeinflussen. Anstatt sich korrekterweise zuerst zum Parteivorstand zu begeben, besuchte Südekum zuerst den Chefredakteur des Avanti in Mailand. Mussolini entzog sich aber dem Gespräch mit dem Deutschen und ließ stattdessen Angelica Balabanoff4) ein Interview mit Südekum führen. Südekum verließ daraufhin Mailand und fuhr zu Gesprächen mit dem PSI- Vorstand nach Rom5). Auf seiner Rückreise nach Deutschland versuchte er erneut mit Mussolini zu sprechen, wurde aber von Angelica Balabanoff mit dem Hinweis abgewiesen, daß Mussolini erkrankt sei. Mussolini hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Kontakt zu Marcel Cachin6), der wahrscheinlich nicht nur für die SFIO, sondern wohl auch für den Quai dŽOrsay mit Mussolini verhandelte. In diesem Zusammenhang wird immer wieder über Geldmittel diskutiert, die Mussolini vom französischen Minister ohne Portefeuille Marcel Sembat über Marcel Cachin erhalten haben soll, die dann für die Spaltung der PSI und die Gründung des Popolo d' Italia verwendet worden sein sollen. Es kann davon ausgegangen werden, daß finanzielle Transaktionen stattgefunden haben7). In der Humanité vom 27. Mai 1915 erklärte Cachin über Mussolini folgendes: "Für einen Sozialisten wie Mussolini war es eine Ungeheuerlichkeit, Frankreich zugunsten des deutschen Imperialismus niederzuwerfen. Für einen Revolutionär wie ihn, der die Dinge von höherer Warte sieht, war Italiens Interventionspflicht absolut notwendig und dringlich, um ein derartiges Verbrechen zu verhindern"8). Mussolinis veränderte Position wird durch Artikel und Stellungnahmen im Avanti deutlich. So unterschied er ab Oktober 1914 zwei Möglichkeiten, die die italienische Arbeiterbewegung hätte. "Falls Italien mit Österreich-Ungarn gegen Frankreich in den Krieg ziehen sollte, sei es die Pflicht der italienischen Sozialisten, einen bewaffneten Aufstand zu entfesseln. Im umgekehrten Fall - Kriegsbeteiligung Italiens mit der Entente gegen die Mittelmächte - müsse die PSI ideale und legale Opposition üben"9). Die Genossen in der PSI dachten aber nicht daran, sich von ihrem pazifistisch-internationalistischen Wege von Mussolini abbringen zu lassen. So protestierte die PSI Turin gegen Mussolinis Gedankenspiele und forderte in jedem Falle einer Teilnahme des Landes am Kriege den Generalstreik. Am 18.10.1914 veröffentlichte Mussolini im Avanti unter der Überschrift "Von der absoluten zur aktiven Neutralität" folgendes: "Wollen wir als Menschen oder Sozialisten tatenlose Zuschauer dieses grandiosen Dramas bleiben? Oder wollen wir nicht irgendwie und in irgendeinem Sinn mitmachen? Sozialisten Italiens, gebt acht: es ist schon vorgekommen, daß der Buchstabe den Geist tötet. Retten wir nicht den Buchstaben der Partei, wenn es gleichbedeutend damit wäre, den Geist des Sozialismus zu töten!"10). Mussolini forderte nun die Diskussion über die Kriegsfrage. Er argumentierte, daß eine italienische Stellungnahme entweder pro Frankreich oder pro Österreich-Ungarn nicht zu vergleichen sei (Mussolini befand sich jetzt bereits im vollen Gegensatz zur offiziellen Parteimeinung und seinen mündlichen und schriftlichen Aüßerungen, z.B. vom 20./21. September, denn in der PSI herrschte die Meinung gegen den Krieg vor, und nicht die Frage, auf welcher Seite Italien daran teilzunehmen hätte), denn es gebe noch die unerlösten Gebiete in Österreich-Ungarn, die nicht vergessen werden dürften. Mussolini war wieder einmal ein Coup geglückt, er hatte praktisch aus dem Nichts eine neue politische Bewegung erschaffen, die sog. Linksinterventionisten. Sie beriefen sich wie selbstverständlich auf Garibaldi, Mazzini und das Risorgimento11) und unterschieden sich kaum von den patriotischen und nationalchauvinistischen Kriegsbefürwortern, besonders wenn es sich um das Ziel ihrer Agitation handelte. Im Rahmen seiner Linksagitation erklärte Mussolini, daß die Kriegsteilnahme (auf Seiten der Westmächte) die bürgerlich-demokratische Revolution vollenden und damit die proletarische Revolution ermöglichen würde. Die Republikanische Partei unter der Führung Pietro Nennis schloß sich der Agitation der Linksinterventionisten an. Sie war schon aufgrund ihrer Verbundenheit gegenüber dem republikanischen Frankreich und ihrem Wunsch nach Befreiung von Triest und Trient im Spätsommer 1914 für eine Intervention gegen die Mittelmächte eingetreten12). Mussolinis Umschwenken auf Kriegskurs versetzte die Führer der PSI in Alarmzustand. Einer der wichtigsten Führer der italienischen Sozialisten verstieß vehement und peinlicherweise im Parteiorgan, dem Avanti, gegen die pazifistische Grundhaltung der Partei. Es folgte ein Treffen des Parteivorstandes am 20.Oktober 1914 in Bologna. Mussolini provozierte dort die Genossen mit einem Antrag gegen die "absolute Neutralität", der verworfen wurde. Stattdessen wurde eine Stellungnahme beschlossen, in der die Haltung der französischen, deutschen und österreichischen Sozialdemokratien abgelehnt und die internationalistische Position der russischen und serbischen Sozialisten begrüßt wurde. Weiterhin wurde das eigene Bekenntnis zum Internationalismus erneuert. Diese Stellungnahme wurde mit einer Gegenstimme, der Mussolinis, angenommen. Der Bruch Mussolinis mit der PSI trat nun offen zu Tage, und Mussolini legte seinen Posten als Chefredakteur des Avanti nieder. Sofort nach seinem Ausscheiden setzte im Avanti eine heftige Antikriegsagitation ein. Am 10. November 1914 kam es auf einer Versammlung der Mailänder Sozialisten zu einer heftigen Auseinandersetzung Mussolinis mit anderen Parteiführern. Mussolini legte seine Position dar, wurde aber von den Anwesenden mit einer Abstimmung brüskiert, in der sich die Mehrheit gegen den Krieg und (interessanterweise) für die Parteidisziplin aussprachen13). Den Gegnern Mussolinis war es anscheinend zu diesem Zeitpunkt bereits gelungen, Mussolini als Quertreiber und Querdenker bloßzustellen. Mussolini war klug genug, sich nicht auf eine innerparteiliche Kraftprobe einzulassen, die für ihn von vornherein nicht zu gewinnen war. So zog er sich aus der Partei zurück, aber nicht etwa als Verlierer, der abtaucht, sondern um sein ureigenes Projekt durchführen zu können: Die Gründung seiner eigenen Zeitung. Am 15. November 1914, nur fünf Tage nach seiner Niederlage in Mailand, erschien die erste Nummer des Popolo d`Italia. Es war eine organisatorische Sysiphusleistung, eine Zeitung derart schnell aus dem Boden zu stampfen. Unterstützung gewährte ihm dabei Filippo Naldi, Herausgeber des von italienischen Industriellen unterstützten Resto del Carlino (Bologna)14). Am 24. November rechtfertigte Mussolini sich wiederum vor einer Versammlung der Mailänder PSI. Nach einer Einleitung, in der er u.a. erklärte: "Ihr haßt mich, weil ihr mich noch immer liebt."15), führte er ganz im Stil der französischen und deutschen Sozialdemokratien aus, daß man "die militaristische europäische Reaktion mit der Waffe in der Hand bekämpfen (müsse.)". Weiter verkündete er: "Vielleicht werden Kronen zerbrechen und wir werden eine neue Ära in der Weltgeschichte erleben, vor allem in der Geschichte der italienischen Proletarier (Beifall)"16). Trotz seiner Rhetorik gelang es ihm aber nicht, die anwesenden Sozialisten umzustimmen. Die Führung der PSI mußte jetzt handeln und mit dem Störenfried fertig werden. Nachdem Mussolini bereits aus der Mailänder Ortsgruppe ausgeschlossen worden war, wurde am 29. November 1914 auf einer PSI-Vorstandsversammlung der Ausschluß des Genossen Mussolini bestätigt. Begründet wurde der Ausschluß mit der "offenkundigen Verletzung der Parteidisziplin" durch Herausgabe des Popolo dŽItalia17).
    Das Lager der Interventisti wies aber nicht nur den Namen Mussolinis auf. Die bekanntesten der für Demokratie und Selbstbestimmung eintretenden Kriegsbefürworter waren Salvemini, Bissolati und Cesare Battisti, ein Trienter Sozialist18). Auf der rechten Seite waren es Luigi Albertini, Direktor des Corriere della Sera19) und dessen Schützling Gabriele D´Annunzio, der plötzlich ohne Schulden aus Paris nach Italien zurückkehrte und sofort und heftig gegen Österreich-Ungarn agitierte20). Ebenso beeinflußt von Tolomeis Maximalprogramm und dem Wunsch, die Scharten von Custoza und Adua21) auszuwetzen, waren unter anderem Prezzolini, Papini und Corradini22). Den konservativ-liberalen Interventisti gelang es, immer mehr Konservative, Katholiken, Liberale und vor allem die bürgerliche Jugend ins Lager der Interventisti hinüberzuziehen. Der Corriere della Sera, schon damals die wichtigste Tageszeitung Mailands und Norditaliens, trat ebenfalls für die Intervention ein. Die glorreichen Erinnerungen, besonders in Norditalien an das Risorgimento, wurden vom Corriere della Sera und den anderen Aktivisten wachgehalten und geschürt. Den vielen liberalen Politikern Süditaliens und den Landarbeitermassen, die deren Klientel bildeten, waren die zu befreienden Gebiete sehr viel gleichgültiger. Dort herrschten ganz andere Probleme wie Tuberkulose, Cholera, Malaria und Mangelernährungserscheinungen wie die Pellagra23). Seit Ende 1914 gelang es zwei Männern, die Führung der Interventisti zu übernehmen: D´Annunzio und Mussolini. Mussolinis Grundlage für diesen Erfolg war sein Popolo D'Italia. Mussolinis Talent als Boulevardjournalist24) kam in diesem Projekt voll zum Tragen. Er praktizierte einen neuen Stil, ganz im Gegensatz zum (inzwischen wieder) seriösen und soliden Avanti. Auf der ersten Seite des Popolo25) standen zwei Losungen, die erste von Blanqui: "Qui a du fer a du pain" (Wer Eisen hat, hat Brot), die zweite von Napoleon: "Die Revolution ist eine Idee, die Bajonette fand". Die beiden Namen waren für Mussolini persönlich durchaus Programm, er wollte zwar die Umwälzung, gelenkt aber durch eine starke Hand.

    2. Mussolini und der erste Fascio

    Mussolini ließ sich von der Brüskierung durch die Leitung der PSI nicht aufhalten. Auf einer gemeinsamen Versammlung der Interventisti (Republikaner, Gewerkschaftler, Anarchisten, Syndikalisten und Sozialisten) am 12. Dezember 1914 erklärte er, seine Absicht sei nicht die Gründung einer neuen Partei, sondern er wolle lediglich einen neuen Fascio1) ins Leben rufen. Einen Tag später, während einer Versammlung in Parma, erlärte er den Anwesenden seine Sicht der Dinge.
    Im folgenden gebe ich eine Zusammenfassung dieser Rede wieder2): - Die sozialistischen Parteien Europas hätten aufgrund ihrer Menschlichkeit vor 1914 nicht an die Möglichkeit eines europäischen Krieges geglaubt. Das sei "absurd" und "eine weitere Illusion" gewesen. - "...Der Verrat der Deutschen hat alle anderen Sozialisten gezwungen, sich auf ihre Nation und ihre Landesverteidigung zu besinnen." - Die italienischen Arbeiter müßten sich zwischen zwei Blöcken entscheiden, dem aggressiven deutschen Reich und dem heroischen Serbien, dem Märtyrerland Belgien, dem republikanischen Frankreich, dem demokratischen England und dem autokratischen Rußland, welches aber bald sowieso sozialistisch werden würde. - Alle konservativen und bürgerlichen Kräfte Italiens seien feige und pazifistisch und daher für die absolute Neutralität. Ebenso sei der katholische Klerus für die absolute Neutralität aus Sympathie für das klerikale Österreich-Ungarn. - Wenn Italien neutral bliebe, fiele es wieder unter die weltliche Herrschaft des Papstes. Zu verdanken wäre das der reaktionären, absolut antirevolutionären und antisozialistischen Haltung der PSI. Gegen diese schwarze Gefahr gebe es nur einen Ausweg, erklärte Mussolini: "Wir wollen den Krieg, und zwar sofort."
    Über dem Umweg von sozial gerechten Kriegen wie dem von 1793 oder Garibaldis Heldentaten kam er auf Belgien zu sprechen: "Belgien werde leben, weil es sich verteidigt hat, hätte es kapituliert, wäre es für alle kommenden Jahrhunderte gestorben". Damit erntete er großen Beifall. Einmal im Redefluß, fragte er die Anwesenden, ob sie sich auch erst verteidigen wollten, wenn sie am Boden lägen. Dann verlangte er Solidarität mit dem "Frankreich der Menschenrechte und der Revolution".- Unter Solidarität verstand er die Teilnahme Italiens am Weltkrieg auf Seiten der Entente. Er versprach seinen Zuhörern ein rasches Ende des Krieges, wenn Italien mitkämpfen würde. Den Abschluß bildete eine Tirade, wie sie bei ihm damals noch üblich war, gegen "Pfaffen und Sozialisten", die sich in der Zukunft Italiens als Verbündete des deutschen Militarismus erweisen würden. Mussolini stellte in dieser Rede eine direkte Verbindung von Krieg und Revolution her. Später kehrte dieses Motiv in der faschistischen Agitation immer wieder. Für Italiens Sozialisten war dieser Wandel Mussolinis vom Linkssozialisten zum Kriegstreiber ein Schock. Im europäischen Vergleich war dieser Wandel eine Normalität. Kaum ein namhafter Führer der SPD, der SDAP oder der SFIO blieb vom Kriegstaumel des Sommers 1914 verschont. Die italienischen Sozialisten hingegen waren die einzige landesweit organisierte sozialistische Partei Europas, die den ganzen Weltkrieg hindurch bei ihrem pazifistisch-revolutionären Kurs blieb3). Mussolini hatte im Vergleich zu den Sozialisten, der zu diesem Zeitpunkt am Kriege beteiligten Länder, den immensen Vorteil, seine "Pro-Kriegstheorien" noch im Frieden entwickeln zu können. Er baute seine eigene Theorie auf der Basis der von Marx und Engels zur "fortschrittlichen" Landesverteidigung weiterentwickelten jakobinischen und napoleonischen Tradition vom gerechten Volks- und Verteidigungskrieg4). Der ehemalige Chefredakteur des Avanti führte diese Theorie dann für sich und Italien, bezugnehmend auf die jakobinische Tradition seiner Jugend, weiter: Ein Revolutionärer Volkskrieg sollte gegen den äußeren Feind geführt werden und Terror gegen den inneren Feind angewendet werden. Die Pfaffen und Sozialisten, die er als Verbündete des deutschen Militarismus zu stigmatisieren trachtete, waren für ihn diese inneren Feinde, da sie gegen die Kriegsbeteiligung Italiens arbeiteten5). Vergleichbare Konflikte gab es auch in Frankreich und dem Deutschen Reich, nur dort waren die aktiven Kriegsbefürworter der sozialistischen Parteien am Ruder und sorgten dafür, daß die Pazifisten keine Erfolge hatten. Ganz im Gegenteil zu Italien, wo die pazifistisch orientierten Sozialisten aufpaßten, daß Kriegsbefürworter wie Mussolini innerhalb der sozialistischen Partei nicht zum Zuge kamen oder entfernt wurden. In den folgenden Monaten präsentierte sich Mussolini als zielstrebiger Revolutionär, der gegen die reaktionären Mittelmächte im Bunde mit den demokratischen Westmächten kämpfte (das Problem des zaristischen Rußlands wurde, wie schon geschildert, einfach umgedeutet). Aber in Italien kam Mussolinis ganz persönliche Aggressivität und Rücksichtslosigkeit zum Tragen, die er vorher schon in den Flügelkämpfen innerhalb der PSI bewiesen hatte. Die persönliche Führung Mussolinis in dem neuen sozialpatriotischen Bund, dem fascio, führte dann im Laufe der nächsten Jahre zu einer neuen politischen Bewegung, dem Faschismus Mussolinis.

    3. Die Bürgerlichen und der Kriegseintritt

    Salandra war entschlossen, die Möglichkeiten, die der Weltkrieg bot, auch innenpolitisch zu nutzen (die außenpolitischen Zielsetzungen sind bereits dargestellt worden). Seine Ziele waren:
    • Die seit dem Libyenkrieg stärker werdenden Nationalisten an sich zu binden.
    • Der Aufstieg in den Kreis der Großmächte durch die Teilnahme am Weltkrieg sollte die politische Position des Bürgertums stärken und von inneren Problemen des Landes ablenken.
    • Der große Mann der italienischen Politik, Giolitti1), sollte von einem Bündnis mit den Linken abgeschnitten und so die eigene Macht geschützt werden.
    Die Verhandlungen mit Ö-U über territoriale Zugeständnisse für ein neutrales Italien wurden von den Österreichern bewußt verschleppt. Auch die Verhandlungen mit der Entente verliefen nicht sehr zufriedenstellend, da die Italiener stets Maximalforderungen stellten (was ihrem Image bei der Entente nicht sehr dienlich war). Die innere Lage Italiens veränderte sich ab Jahresbeginn 1915 zusehends. Die Interventisti, unterstützt von Salandra und Sonnino, bekamen immer mehr Einfluß auf die öffentliche Meinung und liefen zusehends außer Kontrolle. Obwohl die österreichische Führung dem Drängen des deutschen Verbündeten nachgab, und am 1. April 1915 ein konkretes Angebot vorlegte2), war es Salandra gar nicht mehr möglich, auf Ö-U zuzugehen. Innenpolitisch wäre ein Arrangement mit dem Antagonisten Österreich-Ungarn nicht mehr mehrheitsfähig gewesen, was insbesondere nach den Londoner Angeboten der Entente der Fall war. Soviel Profit konnte Ö-U niemals versprechen, und so wurde mit Wien nur noch weiter verhandelt, um sich alle Türen bis zum endgültigen Vertrag mit der Entente offen zu halten. Obwohl bis zum 13./14. Mai 1915 die Mehrzahl der Parlamentarier gegen einen Kriegseintritt waren, stimmten sie am 20./21. Mai in der Kammer und im Parlament für die besonderen Vollmachten der Regierung. Giuliano Procacci nennt diesen Vorgang: "Eine Art kleiner Staatsstreich mit dem Anschein der Legalität"3).

    Abbasso l´ Austria
    E la Germania
    Con la Turchia
    In Compagnia.4)

    Nieder mit Österreich
    und Deutschland
    mit der Türkei -
    die miteinander verbündet sind.

    In ganz Italien wurden Kundgebungen der Interventisti organisiert, nachdem der Londoner Vertragsabschluß bekannt geworden war. Hier begann die Bürgerkriegsstimmung, die später von der faschistischen Staatsrhetorik als "radiose giornate di maggio"5) gefeiert wurde. Am 13. Mai 1915 drohte Mussolini in Mailand mit der Revolution und D´Annunzio forderte auf einer Massenkundgebung in Rom Giolittis Kopf. Diese Ereignisse waren, im nachhinein betrachtet, nichts anderes als die Vorläufer des faschistischen Staatsstreiches. Die Agitatoren setzten sich über die Parlamentarier hinweg, die Masse schüchterte die Volksvertreter ein, und die Regierung begünstigte alles durch ihr Nichtstun6). Parallel dazu liefen die letzten verzweifelten Versuche Bülows und Giolittis, Italien in der Neutralität zu halten. Am 9. Mai 1915 erklärten sich noch 300 Abgeordnete bei Giolitti für die Neutralität Italiens. Am 20. Mai, in der Eröffnungssitzung der Kammer, beabsichtigten die Neutralisten um Giolitti (Liberale, Katholiken und Sozialisten), die Regierung zu stürzen und so den Krieg abzuwenden. Doch Salandra und Sonnino kamen ihnen mit einem raffinierten Schachzug, der auf Giolitti zielte, zuvor. Am 13. Mai trat die Regierung zurück. Der König bot daraufhin Giolitti die Regierung an, aber der brillante Taktiker verfing sich in seiner eigenen Politik. Aufgrund der unklaren Situation und der bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse lehnte er ab7) und schob bedeutungslose Platzhalter vor. Daraufhin forderte der König Salandra zum Bleiben auf, und der Widerstand der Neutralisten brach zusammen8). So war Italien durch ein Bündnis der Regierung mit der Straße, unter Ausschaltung des Parlaments, in den Krieg gezogen worden, für den es nicht vorbereitet war.

    V. Der Krieg

    Der italienische Botschafter in Wien, Averna, hatte am 23. Mai 1915 die traurige Aufgabe, die Kriegserklärung zu überbringen. Inkrafttreten sollte sie am 24. Mai 1915. Genauso wie Botschafter Bollati in Berlin war er vor dem 23. Mai 1915 nur unzureichend über die Vorgänge in Rom und London informiert worden1). Am folgenden Tag schlossen die österreichisch-ungarische Botschaft und die deutsche Botschaft in Rom. Bülow und die Gesandten Preußens und Bayerns beim hl. Stuhl verließen Rom noch am selben Tag - obwohl Italien trotz Drängens der Entente dem dt. Reich noch nicht den Krieg erklärt hatte2). Militärisch war der Krieg gegen Österreich-Ungarn ein Stellungs- und Ermüdungskrieg, der Italien ca. 680.000 Tote kostete3). Nach dem Zusammenbruch der russischen Front konnten die Deutschen und Österreicher am 24. - 27. Oktober 1917 (Karfreit) noch bis nach Venetien und zu der Piave vorstoßen4). Bis Kriegsende gelang es den Italienern nicht, die Gebiete zu besetzen, die Österreich-Ungarn im Angebot vom 1. April 1915 ihnen zugesagt hatte. Der Zusammenbruch der Doppelmonarchie verhinderte weitere Erfolge der Mittelmächte und gab den italienischen Militärs die Initiative, die sie vorher niemals besaßen5). Der Erfolg des Krieges beruhte mehr auf der Duldsamkeit des einfachen italienischen Soldaten (wie in jedem Kriege) und weniger auf der Qualität der italienischen Heeresführung. Die Materialversorgung und Organisation war besonders zu Beginn der Kampfhandlungen miserabel6), und der Generalstab war auch nicht besser. Die schweren innenpolitischen Auswirkungen des Krieges, dessen Dauer und Verluste an Menschenleben und Material auch die ärgsten Pessimisten nicht erwartet hatten, waren in ihrer ganzen Tragweite nicht abzusehen. Italien war 1915 ein junges Pflänzchen, gerade einmal fünfzig Jahre alt, keine gewachsene Nation wie Frankreich, Großbritannien oder im Vergleich sogar zum Deutschen Reich, und es mußte im Krieg die schwersten Erschütterungen ertragen. Gewinner gab es auch in Italien, genauso wie in den anderen Nationen - die Schwerindustrie: Fiat, Ilva und Ansaldo. Der Krieg forcierte eine Entwicklung der Konzentration und Vernetzung der Schwerindustrie und des Finanzkapitals (Banco di Roma usw.) in den Händen einiger weniger. Auch der Staat selbst wandelte sich in den drei Kriegsjahren, es bildete sich eine Staatsform heraus, in der die Exekutive deutlich über die Legislative dominierte. Das Parlament trat, wenn auch seltener, zusammen. Es wurden Vertrauensfragen gestellt, und es gab Regierungskrisen, besonders nach militärischen Mißerfolgen (Karfreit). Giolitti schreibt dazu in seinen Memoiren: "Die Macht der Regierung hatte die Handlungsfä higkeit des Parlaments mehr als in allen verbündeten Ländern ausgehöhlt...keine Haushaltsdebatten und keinerlei Kontrolle über die Staatsausgaben (fanden) mehr statt, (so daß das) Parlament über die Verwendung der finanziellen Mittel völlig im unklaren gelassen wurde"7).
    Festsetzungen von Gegnern der offiziellen italienischen Politik an irgendwelchen Orten, z.B. in Calabrien, und Zensur von unbequemen oppositionellen und sozialistischen Zeitungen waren an der Tagesordnung. Der italienische Staat war während des Krieges stark, d.h. autoritär, geworden, aber nicht leistungsstark in bezug auf die Verwaltung, die Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit. Die Erfordernisse des Krieges führten zu Änderungen des alten liberalen Staates, besonders seiner ausführenden Organe, wie Stärkung der Polizei, der Carabinieri und des Militärs. Weiterhin wurde das Comitato per la mobilitazione industriale (Komitee für die Mobilisierung der Industrie) gegründet. Dort wurden die kriegswichtigen Betriebe und deren Produktion gemeinsam von Militärs und den Industriellen verwaltet. Der rasche Aufbau der organisierten Kriegsindustrie und ihrer Verwaltung auf Basis einer vergleichbar schwachen Schwerindustrie führte zu Kompetenzüberschneidungen, persönlichen Herrschaftsbereichen und nutzlosen Verwaltungen. Innerhalb dieser neuen Industriestruktur entstanden zwischen den Bürokraten, Industriellen und Militärs Seilschaften und eine neue Mentalität: "Die Industriellen lernten von den Militärs, eiserne Methoden anzuwenden, die Militärs lernten von den Industriellen, neue Initiativen zu ergreifen, die Politiker lernten von beiden"8). Der Staat wurde zugleich autoritä rer, aber auch ineffizienter, und er kam zunehmend unter den Druck privater Interessen. Der Krieg hatte dem liberalen Staat den Garaus gemacht und das in einem Moment, in dem das Gefühl für die eigene Nation erst größere Schichten erreichte. Vor dem Kriege bestand die Lebensaufgabe des einfachen Italieners darin, für das Überleben der Familie zu sorgen oder als junger Mensch das Geld für die Auswanderung in die USA oder nach Südamerika zu sparen. Im Kriege wurde diesem Italiener erst durch die Uniform, in die er hineingesteckt wurde, und das Kriegserlebnis klar, daß er ein Teil einer Nation war. Die negativen Auswirkungen waren offensichtlich. Der arme Italiener erfuhr das nationale Erlebnis als einfacher Soldat und allzu oft als Kanonenfutter - der, wenn er revoltierte, auch Dezimierungen zu ertragen hatte.
    Der Klein-(st)bürger und Bürger, Unteroffizier und Offizier identifizierte sich hingegen mit den schwülstigen Reden und Artikeln D´Annunzios und Mussolinis9). Eine innere Zerrissenheit entstand, wie in den anderen Armeen auch, die wie in den anderen kriegsführenden Ländern nach Waffenstillstand und Versailles offenkundig werden sollte10). Demokratie, Republik und Revolution waren in Italien nach dem Kriege synonym mit Caporetto. Vaterlandsliebe, Heldenhaftigkeit und Patriotismus - diese Worte wiederum waren gleichbedeutend mit den Namen D´Annunzio und Mussolini. Der siegreiche Kriegsausgang hatte keines der drängenden Probleme des Landes gelöst11). Italien befand sich in einem weitaus schlechteren Zustand als vor dem Kriegseintritt. Dies sind einige Gründe für diese These:
    • Die Industrie war extrem konzentriert und unausgeglichen strukturiert.
    • Die Verwaltung war aufgebläht, improvisiert und stand unter dem Druck privater Interessen.
    • Eine Führungsschicht herrschte, die nicht führen konnte und daher zu autoritären Lösungen neigte.
    • Ein Nationalgefühl entstand, welches sich im Krieg durch Haß gegen den Feind herausgebildet hatte. Italien war erneut in- nerlich zerrissen12).
    • Die zurückkehrenden Soldaten wurden vom Staat weder versorgt, noch in irgendeiner Art und Weise finanziell unterstützt.


    VI. Die Früchte des Sieges

    Im April 1919 verließen Ministerpräsident Orlando und Außenminister Sonnino aus und unter Protest gegen die Nichteinhaltung des Londoner Vertrages die Pariser Friedenskonferenz. Der Sieg oder der Beitag zur Niederringung der Mittelmächte, erreicht unter gewaltigen Opfern, wurde von den anderen Mächten nicht als vollwertig anerkannt1). Italien wurde zwar zum "Rat der Vier" zugelassen, die eigentlichen Entscheidungen wurden aber von Wilson, Clemenceau und Lloyd George gefällt. 1915 war Italien von allen europäischen Mächten umworben worden. Vier Jahre später berührten die berechtigten, da vertraglich zugesicherten, Forderungen die deren Siegermächte nur noch unangenehm. Wodrow Wilson hatte inzwischen mit seiner Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker die Bühne der Friedensverhandlungen betreten. Italien stand mit seinen Forderungen dazu im scharfen Gegensatz, besonders in Bezug auf Jugoslawien. Jugoslawien, unter serbischer Führung, wurde von Frankreich und Wilson bei der Abwehr italienischer Gebietsforderungen unterstüzt. Besonders die Frage der Hafenstadt Fiume erwies sich als Hindernis bei den Friedensverhandlungen. Die italienische Rechte hatte schon während des Krieges den Erwerb dieser größtenteils von Italienern bewohnten Stadt zu einer Frage der nationalen Ehre hochgespielt - unberührt von der Tatsache, daß Fiume nicht einmal im Londoner Vertrag Italien zugesichert wurde. Die ungeschickte Verhandlungsführung der italienischen Delegation in Bezug auf die südslawische Frage und die erwünschten Kolonialerweiterungen und die beginnenden Terrorakte gegen Jugoslawien2) verhinderten jeden Erfolg in diesen Bereichen. Die Krise im Inneren des Landes wurde durch den mangelnden Erfolg bei den Verhandlungen verschärft und wirkte sich bis zum Rücktritt der Regierung Orlando im Juni 1919 aus. Nachfolger als Ministerpräsident war Nitti und als Außenminister Tittoni. Mit der Erfüllung seiner Forderungen Österreich gegenüber konnte sich das Land mehr als zufrieden geben. Wilson hatte gegenüber dem schwächsten Besiegten weniger Probleme mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und nahm es nicht so genau3). Am 10. September 1919 wurden Italien im Friedensvertrag von St. Germain folgende Gebiete zugestanden:
    • Das Trentino und Südtirol
    • Triest
    • Julisch-Venetien
    • Istrien und Teile Dalmatiens


    Italien erhielt aber nicht:
    • Fiume
    • ganz Dalmatien
    • das Protektorat über Albanien
    • eine Interessenzone in Kleinasien
    • irgendeine deutsche Kolonie oder eine Kompensation.
    Der am 10. August 1920 geschlossene Frieden von Sèvres brachte in Kleinasien nur kleine Gewinne, die dann auch noch durch die nationaltürkische Revolution zunichte gemacht wurden. Das Ergebnis des freiwillig begonnenen Krieges war im Vergleich zu dem Erhofften gleich Null, besonders wenn man die österreichischen Angebote des Jahres 1915 berücksichtigt. Die Reaktion darauf war eine rasch entstandene Feindschaft gegenüber den ehemaligen Verbündeten und den demokratischen Politikern, die bei den Friedensverhandlungen "versagt" hatten. Die wirtschaftlichen Probleme waren gravierend. Die Bauern kamen aus dem Kriege zurück, und auf dem Lande herrschte größere Armut als vor dem Kriege. Die Schulden gegenüber den Verbündeten waren enorm. Die "siegreichen" Offiziere mußten sich wieder in eine zivile Gesellschaft ein- und unterordnen und stellten fest, daß ihre Qualifikationen nicht mehr gefragt waren. Viele Italiener kamen zu der Überzeugung, daß der Krieg und all seine Leiden umsonst gewesen waren. Die Enttäuschung ging soweit, daß 1919 die Erinnerungsfeiern zum Kriegseintritt ausgesetzt wurden. Hatte nicht 1917 sogar der Papst die Regierenden aufgefordert, mit dem "sinnlosen Blutvergießen" aufzuhören?4) Die bürgerliche classe dirigente, die mit dem Kriegseintritt das konservative Element stärken wollte, sah sich nun einer viel größeren Revolutionsgefahr ausgesetzt:
    • Es streikten: Die Arbeiter, die Postbediensteten, die Eisenbahner, praktisch der gesamte öffentliche Dienst, die Tagelöhner, die mezzadri (Halbpächter) und sogar die Beamten in den Ministerien.
    • Die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter wuchs von einigen Hunderttausend vor dem Kriege in die Millionen um 1919/20.
    • Von der Front zurückgekehrte Bauern gründeten, besonders im Latium und in Mittelitalien, sozialistische Frontkämpfervereinigungen, die daran gingen, Landgüter zu besetzen und die Regierung zwangen, dieses Vorgehen zu legalisieren.
    • Im Juni 1919 kam es wegen der steigenden Preise zu gewalttätigen Demonstrationen.
    • Im Juli wurde ein Generalstreik für das revolutionäre Rußland ausgerufen, der allerdings kaum befolgt wurde5).
    Der Rechten hingegen gelang es mit den Schlagwörtern vittoria mutilata (verstümmelter Sieg) und dem diplomatischen Karfreit den Zorn der national eingestellten Schichten zu bündeln und für ihre Zwecke nutzbar zu machen.

    V. Die Reaktion der Rechten

    Die Hauptfigur der revisionistischen Bewegung war 1919 noch Gabriele D´Annunzio. Am 12. September 1919 besetzte der Dichter mit einer bunt zusammen gewürfelten Soldateska die Hafenstadt Fiume unter dem Motto Fiume o morte (Fiume oder der Tod)1). Dort hielt er sich fünfzehn Monate, bis Ministerpräsident Giolitti ihn im Dezember 1920 von der italienischen Marine aus der Stadt hinausbomben ließ. In diesen fünfzehn Monaten hatte der Dichtercondottiere einen korporativen Freistaat mit sozialrevolutionären Elementen installiert. Fiume war das Modell der Machtergreifung des Faschismus. Denn genau wie drei Jahre später hielten sich die leitenden Militärs nicht nur zurück bei der Unterdrückung dieser Militärrevolte, denn nichts anderes war dieses Unternehmen, sondern unterstützten inoffiziell sogar D´Annunzio, indem sie z.B. bestimmten Soldaten die Möglichkeit gaben, ihre Truppenteile zu verlassen und nach Fiume zu gelangen2). Die zivilen Politiker ihrerseits taten ebenfalls nichts, um das Unternehmen zu stoppen. In Fiume nahm D´Annunzio die späteren faschistischen Aufmärsche, die Rhetorik und den Staatsaufbau vorweg. Die Giovinezza3) sangen die Arditi auf ihrem Marsch nach Fiume, das "Eia, Eia, Ailalà" ertönte bereits vor dem Balkon, auf dem D´Annunzio seine Reden schwang, die schwarzen Hemden, der Fes, die Totenkopfsymbole und die Fahne der Legionäre mit dem Symbol der römischen Fasci und der Adler mit weitgeöffneten Flügeln, erschienen das erste Mal geballt in Fiume und wurden von Mussolini später für seine eigenen squadri und fasci übernommen. Allerdings propagierte DŽAnnunzio auch die freie Liebe in Fiume. Ob dieser Lebensstil des Dichterfürsten Mussolinis Zustimmung fand, ist nicht bekannt. Das liberale Italien schien im Herbst dem Untergang geweiht, Massenstreiks und Landbesetzungen von links und paramilitärische Aktionen von rechts gaben den Italienern das Gefühl vom Untergang des Staates. Die Wahlen vom November 1919, die ersten nach dem Verhältniswahlrecht, belegten die politischen Veränderungen. Die sozialistische Partei erhielt 1.756.344 Stimmen und 156 Abgeordnete, die kurz zuvor gegründete katholische Volkspartei (Partito popolare italiano) erhielt 1.121.658 Stimmen und über 100 Abgeordnete4). Die liberalen Regierungskandidaten wurden nur durch die Klientelverhältnisse im Süden vor der völligen Niederlage bewahrt. In Norditalien und in der Po-Ebene hatten die Sozialisten einen glänzenden Sieg errungen5). Die sozialistische Partei war jedoch gespalten in Maximalisten und Reformisten, und jeder dieser beiden Richtungen fehlte der Wille, die eigenen Vorstellungen in Politik umzusetzen. Weder setzten sich die Maximalisten ernsthaft für die Revolution ein, noch setzten die Reformisten sich für konkrete Reformen der italienischen Politik ein. Zudem kam bei den Reformisten noch die Angst hinzu, daß sie bei einer Beteiligung am alten politischen System bei dessen Zusammenbruch mit untergehen könnten. Ein Beispiel für die Unfähigkeit der sozialistischen Parteileitung, die Situation im Lande einzuschätzen, ist folgende Kuriosität:
    Zwischen den Jahren 1911 und 1921 stieg die Zahl der Landeigentü mer unter den Bauern von 21 auf 35.6%. Viele landlose Pächter hatten sich die Blockierung des Pachtzinses und die steigenden Agrarpreise während des Krieges zunutze gemacht und hatten selbst Land erworben. Die Sozialisten gaben nun die Losung der allgemeinen Sozialisierung und Enteignung des Grundbesitzes aus und wunderten sich, daß sich nun ein Großteil der Bauern von ihnen abwendete.
    Zudem blockierte der traditionelle Antiklerikalismus der Sozialisten ein Zusammengehen mit den Popolari und deren Gewerkschaften, obwohl in vielen Bereichen dieselben Ziele angestrebt wurden.
    Die einzige sozialistische Gruppe, die die italienische Revolution tatsächlich anstrebte und nicht nur davon redete, existierte in Turin und war der Zeitschrift L' ordine nuovo zugeordnet. Antomio Gramsci, Angelo Tasca und Palmiro Togliatti gehörten zu diesem Kreis6). Es war kein Zufall, daß die radikalste Linke in Turin zu finden war. Das Turiner Industrieproletariat war das zahlenstärkste in ganz Italien und das am weitesten radikalisierte. Im April 1917 wurden in Turin menschewistische Abgeordnete, die für die Weiterführung des Krieges agitieren wollten, mit "viva Lenin" in der Stadt begrüßt, und im August 1917 konnten die revoltierenden Turiner Arbeiter nur mit Waffengewalt niedergehalten werden. Außerdem hatten sich seit 1917 Arbeiterräte, besonders bei Fiat, gebildet, die die Basis für die Kämpfe des Jahres 1919/20 bildeten. Die Industriellen hingegen organisierten bereits den Gegenschlag. Ihr Verband, die Confindustria7), wurde zum Generalstab der Reaktion aus- und umgebaut. Das gemeinsame Vorgehen der Großindustriellen wurde hier geplant und Kassen für besondere Projekte eingerichtet. Turin wurde nun von den Industriellen als Ausgangspunkt für den Gegenschlag gewählt. Der große Metallarbeiterstreik vom April 1920, zu dem sich die Unternehmer hatten provozieren lassen, endete für die Gewerkschaften mit der Niederlage. Gramscis Traum von einem Turin als Petersburg Italiens erwies sich bei den italienischen Verhältnissen als nicht durchsetzbar. Der Sieg der Turiner Industriellen bewies den Konservativen des Landes, daß sie 1919 nur Schlachten verloren hatten, nicht aber den Krieg. Es begann die Phase der Konsolidierung der rechten Kräfte und ein Nachlassen der revolutionären Bewegung. Procacci schreibt über diese Periode: "Es begann eine Zeit der Unsicherheit und des prekären Gleichgewichts: Eine Zeit, die - wie Gramsci als einer der wenigen erkannte - nur mit einer eindeutigen Lösung enden konnte: entweder mit der Revolution oder mit einer nicht weniger radikalen und gewaltsamen Reaktion"8).

    VI. Die Wirtschaftskrise

    1919 und während der ersten Monate des Jahres 1920 war Francesco Saverio Nitti1) Ministerpräsident des Landes. Nitti besaß große Kenntnisse der Ökonomie und eine bemerkenswerte geistige Offenheit, allerdings mangelte es ihm an dem notwendigen Fingerspitzengefühl und der Dynamik, um die Verhältnisse des Landes zu ordnen2). Nitti suchte die Unterstütztung der demokratischen Linken u.a. mit der Gewährung einer Amnestie für Deserteure. Aber gerade diese Amnestie brachte ihm die Feindschaft der Militärs und der Rechten. Das Fiume-Unternehmen brachte Nittis Schwäche vollends zu Tage, er erwies sich als unfähig, das Fiume-Problem zu lösen, sei es auf politischem oder auf militärischem Weg. Im Juni 1920 trat Nitti zurück, und der einzige Mann, der Autorität und Moral in seiner Person verband, kam wieder ans Ruder: Giolitti. Er symbolisierte für einen kurzen Moment den Wunsch nach einer Rückkehr zu den Verhältnissen des Vorkriegsitaliens. Giolitti gelang auch die Lösung der adriatischen Frage. Im November 1920 wurde mit Jugoslawien ein Vertrag geschlossen, in dem Italien gegen Anerkennung seiner territorialen Souveränität durch Jugoslawien auf seine Ansprüche auf Dalmatien verzichtete. Fiume wurde zum unabhängigen Staat erklärt3). D´Annunzio und seine Legionäre wurden im Dezember von der italienischen Kriegsmarine aus der Stadt vertrieben. Im September 1920 war es wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in den großen metallverarbeitenden Betrieben des Landes gekommen. Auf den Dächern der Fabriken wehten wieder die roten Fahnen, und bewaffnete Streikposten standen vor den Toren. In der Öffentlichkeit machte sich, wie 1919, die Revolutionsfurcht breit. Der erfahrene Poltiker Giolitti erkannte aber, daß ähnlich wie 1904 die Führer der Linken die Bewegung nicht bis zur letzten Konsequenz treiben konnten. Er saß das Problem so lange aus, bis beide Parteien, müde vom Arbeitskampf, ein Abkommen akzeptierten. Es schien, als ob Giolitti den Staat wieder in geordnete Bahnen zurückführen könnte.
    Leider stimmte diese Einschätzung nicht mit der Realität überein.
    Nach dem Kriege wurde die gesamte internationale Wirtschaft von einem zyklischen Abschwung getroffen, der die lange vorher geschaffene strukturelle Krise der italienischen Industrie voll zum Ausbruch brachte. Bald gerieten auch die Banken in Schwierigkeiten, im Dezember 1921 mußte die Banca di sconto Konkurs anmelden4). Tausende Sparer standen vor dem Ruin. Die Arbeitslosenzahlen stiegen, und die Gewerkschaften verloren mit ihren Mitgliedern ihre Kampfkraft. Die Krise verschärfte auch die Spannungen im sozialistischen Lager, und es kam zu Abspaltungen. Die erste Abspaltung erfolgte im Januar 1921 mit der Gründung der kommunistischen Partei, die damals allerdings nicht mehr war als eine kleine Ansammlung Radikaler. Im Oktober 1922 verließen dann die Reformisten die Partei5). Für die sozialistische Partei und das gesamte demokratische Spektrum des Landes bedeutete die Wirtschaftskrise eine enorme Schwächung. Für die Reaktion bedeutete sie das reinste Lebenselixier. Militärs, Industrielle und Agrarier, 1919 während der großen Streikwelle gelähmt6), sahen nun die Möglichkeit einer autoritären Lösung der innenpolitischen Probleme. Giolitti wurde die Unterstützung entzogen, und ein neuer Mann wurde unterstützt: Benito Mussolini.

    VII. Mussolinis Werdegang ab 1915

    Am 31.August 1915 wurde Mussolini zm 11. Bersaglieri-Regiment eingezogen1). Am 2. September ging er an die Front. Er schrieb dort weitere Kriegsartikel für seinen Popolo. Das Grauen des Krieges wandelte ihn nicht, sondern vertiefte seine Überzeugungen, und der Faschismus des Krieges formte sich in ihm. So schrieb er in seinem ersten Brief, datiert vom 14.September 1915, von der Front an den Popolo: "Die Saboteure töten - diese Aufgabe übertrage ich euch, teure Freunde! Seid wachsam! Schlagt zu! ...erbarmungslos mit der gleichen notwendigen und grausamen Unerschrockenheit, die unsere Bajonette im Sturm auf die feindlichen Schützengräben leitet...es lebe der Befreiungskrieg, es lebe Italien! Brüderlicher Händedruck euch allen"2). In den folgenden Monaten verfaßte Mussolini fortlaufend Briefe von der Front an seine Redaktion. Dort berichtete er, natürlich von seiner Perspektive aus, vom Leben im Graben und versuchte so, Einfluß zu nehmen auf die Kriegsführung des Landes. Er verbreitete sich über Korruption an der Front; so würden Lebensmittelrationen unterschlagen werden. Auf seine Art folgerte er daraus, daß die Regierung "eine Regierung von Dieben sei". Anfang 1916 wird Mussolini zum Gefreiten befördert. In seinen Briefen und in seinem Kriegstagebuch, schon in Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung begonnen, berichtet Mussolini von seinen Erfahrungen und Erlebnissen mit seinen Kameraden. Was davon erfunden, Musssolini nur vom Hörensagen (sog. Latrinenparolen) bekannt oder von ihm selbst erlebt wurde, ist 80 Jahre später schwer festzustellen. Aufschlußreich sind diese Berichte allemal, wenn man die Entwicklung des späteren Duce zu verstehen sucht. So berichtet Mussolini von einem Brief, den ein Kamerad von einem "Sozialistenhäuptling" seines Heimatdorfes erhalten haben soll: "Wir haben vernommen, daß Du an der Front mit dem wohlbekannten Renegaten Mussolini zusammenkämpfst; Du tä test mir einen persönlichen Gefallen und allen Genossen einen Dienst, wenn Du Dich entschließen könntest, diesen Verräter umzubringen"3). In seinen Berichten polemisiert er aber auch gegen das alte Offizierskorps, das in der Anbetung der Pickelhaube aufgewachsen sei und nun keine große Lust verspüre, gegen den alten und bewunderten Bundesgenossen Deutschland Krieg zu führen. Mussolini berichtet in diesem Zusammenhang von einer Abstellung zu einem Offizierslehrgang, von dem er aber nach sechs Tagen aufgrund eines Divisionsbefehls abberufen worden sein soll. Die Enfernung eines bekannten Interventionisten aus dem Kreis der Offiziersaspiranten hätte ihn jedoch nicht sonderlich verwundert4). Am 23. Februar 1917 endete Mussolinis Soldatenkarriere - er war inzwischen Sergeant - durch einen Arbeitsunfall. Die Schuld daran gab er dem leitenden Leutnant. Dieser habe trotz Mussolinis Warnung befohlen, mit einem bereits glühenden Minenwerfer weiter zu schießen. Das Ergebnis war ein Rohrkrepierer, der fast die gesamte Bedienermannschaft tötete. Für Mussolini war es der Heimatschuß, der ihn, schwer verwundet, wieder auf seinen Redaktionssessel nach Mailand beförderte. Dort kämpfte er mit seinem Popolo d' Italia im moralischen Schützengraben, besonders nach der Katastophe von Caporetto. Im Gegensatz zu den meisten anderen Zeitungen des Landes schrieb Mussolini nicht über die völlige Niederlage, sondern verlangte: "Front gegen den Feind! - das ist eure erste Pflicht." Und tatsächlich, die Lage an der Front konnte, wenn auch unter großen Verlusten an der Piave, stabilisiert werden5). Die Niederlage hatte bei den Italienern den Widerstandswillen, bedingt durch die plötzliche Bedrohung des ganzen Landes, hervorgerufen, den Interventionisten wie Mussolini zwei Jahre lang vermißt hatten. Der italienischen Industrie, besonders Ansaldo in Genua, gelang es, das verlorene Kriegsgerät rasch zu ersetzen6). Die Front hielt nun bis zum Eintreffen von englischen und französischen Ersatztruppen. Wie sehr dieser plötzliche Widerstandswille auch vom Popolo d' Italia hervorgerufen wurde, ist schwer zu beurteilen. Mussolinis Durchhalteparolen taten sicher das ihre. Im Dezember 1917 wurde der Fascio parlamentare di defesa nazionale von Rechts- und Linksinterventionisten gegründet. Nationalisten, Republikaner, Reformsozialisten und Salandras Rechtsliberale schlossen sich in ihm zusammen.
    Fast ein Drittel der Parlamentsabgeordneten arbeitete hier für den Widerstandswillen der Bevölkerung. Es wurden (endlich) Gesetze, u.a. zur Versorgung von Hinterbliebenen Gefallener, eingebracht. Parallel dazu entstanden unzählige patriotische Vereine7). Die Ausläufer der russischen Märzrevolution erreichten 1917 auch Italien, und die Antikriegsagitation von Links nahm genauso zu wie der Widerstandswille der Interventisti. Mussolini forderte im Popolo d' Italia vom 7.11.1917: "Die Freiwilligen bewaffnen, die Feindagenten verhaften, ihr Eigentum beschlagnahmen." Ende 1917, Anfang 1918 fordert er einen "qualitativen oder integralen Krieg", im Gegensatz zu dem bisherigen "quantitativen Krieg". Anstatt auch "geistig negative Elemente" in den Schützengräben einzusetzen, forderte Mussolini nun mehr mechaniche Mittel und "Menschen, die den Krieg mit Überzeugung und Lebenskraft führen"8). Der Militärstaatsstreich der Bolschewiki am 7. November 1917 machte auf Mussolini großen Eindruck. Seine Thesen von der Fäulnis der alten bürgerlichen-liberalen Gesellschaft bewahrheiteten sich sich für ihn auf eindrucksvolle Weise. Besonders die These der von Blanqui und Sorel betonten Kraft der zu Gewalt entschlossenen revolutionären Eliten bestä tigte sich für ihn9). Das Kriegsende nahte, und Mussolini war sich seiner Ziele bewußt. Der Weg zur Erfüllung dieser Ziele führte über die Enttäuschung seiner Landsleute über den "verstümmelten Sieg". Am 23. März 1919 gründete Mussolini in eimem Saal an der Piazza San Sepolcro in Mailand die Faschistische Partei Italiens (PNF). Obwohl zuvor im Popolo die Werbetrommel für die Gründungsversammlung gerührt worden war, sollen nicht mehr als 150 Personen anwesend gewesen sein. Drei Resolutionen wurden an jenem Abend verabschiedet:
    • Ein Nachruf auf die gefallenen des Weltkrieges und die Forderung nach besserer Unterstützung der Veteranen.
    • Jeder gegen Italien gerichtete Imperialismus wurde genauso verurteilt wie auch der italienische Imperialismus, der sich gegen andere Völker richtete. Angefügt war das Bekenntnis zur territorialen Integrität der Staaten, einem der Grundprinzipien des Völkerbundes, - allerdings wurde in diesem Falle die territoriale Integrität Jugoslawiens negiert.
    • Kein Neutralist aus einer anderen Partei sollte in die PNF aufgenommen werden10).
    Im Anschluß an die Verabschiedung der oben aufgeführten drei Punkte hielt Mussolini eine Rede, in der seine Ziele etwas genauer darstellte: "Wir sagen dem Sozialismus den Kampf an...weil er gegen das Volk gerichtet ist. Über (den) Sozialismus...kann man sich unterhalten, die offizielle Italienische Sozialistische Partei jedoch ist reaktionär und völlig konservativ. Wir sind Männer der Tat...Wir fordern allgemeines Wahlrecht für Männer und Frauen, Wahllisten auf regionaler Basis...- wir verlangen direkte Vertretung der Wählerschaft..."11). In den folgenden Wochen und Monaten hielt Mussolini unermüdlich Reden im ganzen Land und verfaßte Leitartikel in seinem Popolo, in denen er für die faschistische Sache warb. Immer wieder kam es zu Straßenkämpfen zwischen Kampfgruppen der Linken und faschistischen Stoßtruppen. Mitte Mai 1919 stießen in Mailand eine Marschkolonne der Sozialisten und eine Einheit der Faschisten zusammen. Nachdem die Faschisten den Sieg errungen hatten, stürmten sie das Gebäude des Avanti. Dabei kam ein Soldat ums Leben. In Florenz nahmen die Sozialisten Revanche und töteten einen Faschisten. Ein 17-Punkte-Programm der faschistischen Partei erschien am 6. Juni 1919 im Popolo12). Im November 1919 konnten die Faschisten nur in Mailand eine Liste zusammenscharren. Mussolini selbst erhielt knapp 4000 Stimmen. Zu diesem Zeitpunkt soll er über eine Karriere als Bühnenautor nachgedacht haben13). Auch zu Beginn des Jahres 1920 blieb die faschistische Bewegung nahezu bedeutungslos. Nur in Triest konnte sie einen Erfolg verbuchen. Triest bildete aber schon aufgrund der Nähe zu Fiume, der dort ansässigen Militärverwaltung und der starken Spannung zwischen slawischen und italienischen Bevölkerungsgruppen eine Ausnahme. Hier wurden auch die ersten faschistischen Raids gegen gegen die slawische Bevölkerung und die Arbeiterquartiere durchgeführt - geduldet von der örtlichen Verwaltung.
    Die Gründe für den kommenden Erfolg der Faschisten waren:
    • Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise,
    • Die geschwächte Widerstandskraft der Sozialisten,
    • Die Neigung der bürgerlichen Schichten zu autoritären Lösungen,
    • Die Aversion der (Klein-) Bürger gegen die Sozialisten,
    • Die Erschütterung des liberalen Staates und des liberalen Bürgertums,
    • Mussolinis zweifelsfrei vorhandene Fähigkeiten als Condottiere.

    IX. Der Weg des Faschismus an die Macht

    Am 21. November 1920 fand der erste größere Auftritt der faschistischen Stoßtruppen - der Squadri1) - in Bologna statt. Der (vorgeschobene) Grund war, daß eine neue sozialistische Stadtverwaltung die Leitung der Gemeinde übernehmen sollte. Die Faschisten provozierten schwere Zusammenstöße und entfachten bürgerkriegsähnliche Zustände. Danach begann auf dem Lande, besonders in der Emilia und der Toskana, ein Kleinkrieg gegen die organisierten Landarbeiter. Dieser Bürgerkrieg breitete sich langsam im ganzen Lande aus. In den ersten Monaten des Jahres 1921 verging kein Tag ohne Pressemeldungen über:
    • Die Neugründung faschistischer Gewerkschaften,
    • Brandanschläge auf sozialistische Arbeiterkammern,
    • Plünderungen von Kooperativen,
    • Rizinusöl-Anschläge auf Republikaner, katholische Politiker (Popolari), Sozialisten und Kommunisten2).
    Diese Vorgänge waren Teil eines systematischen roll-backs der Grundbesitzer gegen die landlosen Landarbeiter und deren Organisationen3). Der Haß, der sich hier aufgestaut hatte, war nicht weniger massiv als der in Triest gegen die slawische Bevölkerung.
    Der Erfolg der paramilitärischen Raids der Faschisten wäre ohne die Duldung bzw. Komplizenschaft der Präfekten und der Generäle nicht möglich gewesen. Gegenüber dem faschistischen Terror war dieser Personenkreis mehr als blind4). Die attackierten Landarbeiterkooperativen, die einen Selbstschutz organisierten, wurden von den Polizeibehörden wegen eben dieses Selbstschutzes verfolgt. Besonders der Kriegsminister des Kabinetts Giolitti, Ivanoe Bonomi (ehem. Sozialist) soll die Militärs nicht an ihren Taten gehindert haben. Die Tatsache, daß Militärs, Präfekten, Minister und sogar Giolitti selbst die Faschisten unterstützten oder zumindest nicht behinderten, sollte aber nicht dahingehend interpretiert werden, daß sie die Machtergreifung Mussolinis bewußt unterstützten. Viele gemäßigte Politiker sahen den Faschismus als zeitlich begrenzte Erscheinung an, die schon bald an ihren inneren Widersprüchen zugrunde gehen würde. Diese Sichtweise wurde in der Frühphase auch durch die Heterogenität des faschistischen Programms5) gestützt. Die alten Politiker hofften, sich den Faschismus dienlich machen zu können, um so die Roten aus dem Lande vertreiben zu können.
    Mussolini war sich dieser Problematik bewußt. Im Gegensatz zu seinem Mentor D´Annunzio glaubte er nicht an eine politische Bewegung, die aus sich selbst heraus existieren könnte. Mussolini war zu sehr Realist, um solche Wünsche mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Ihm war bewußt, daß seine Bewegung ein realisierbares Ziel benötigte, um die Heterogenität zu überwinden und nicht auseinanderzubrechen. Das Ziel war klar umrissen: Übernahme der politischen Macht und Gleichschaltung des Staates mit den faschistischen Ideen. Um dies zu erreichen, mußte er die Radikalen aus der faschistischen Bewegung entfernen, um die alten Eliten des italienischen Staates nicht gegen den Faschismus aufzubringen6). Er führte vom Sommer bis November 1921 eine erfolgreiche Säuberungsaktion gegen die linken Strömungen durch. Aus diesem Grunde versicherte er erst in aller Stille und dann in der Öffentlichkeit der Monarchie seine Loyalität. Die Industrie köderte er mit freihändlerischen Äußerungen, und den Vatikan umgarnte er mit Äußerungen, über die universale Idee Roms. Der Vatikan blieb davon nicht unbeeindruckt. So entzog der 1922 neu gewählte Papst Pius XI den Popolari und ihrem kämpferischen Vorsitzenden Don Sturzo7) die Unterstützung.
    Je respektabler der Faschismus in den Augen der Bürgerlichen wurde, desto niedriger wurden die Barrieren, die noch zu überwinden waren. Einige Politiker des alten Italiens wie Giolitti gaben sich bis zuletzt der Illusion hin, die Situation noch beherrschen zu können.
    Aufgrund des Erfolges seiner Stoßtruppen gewann Mussolini zu dieser Zeit immer mehr an Unterstützung - besonders finanzieller Art. Industrielle wie Giacomo Toeplitz (Präsident der Mailänder Banca Commerciale) und Gino Olivetti (Sekretär des Industrieverbandes) unterstützten die faschistische Partei genauso wie die Mailänder Freimaurer und der Credito Italiano (eine Bankiersgruppe, die die italienischen Automobilindustrie kontrollierte). Zu Beginn des Jahres 1922 sollen sich ca. 24.000.000 Millionen Lire in Mussolinis Parteikasse befunden haben8). Giolitti war es, der den Faschisten im Mai 1921 zu ihrem ersten Wahlerfolg verhalf. Um die eigene Macht zu erhalten, hatte er einem Wahlbündnis mit den Faschisten zugestimmt. Die Faschisten erhielten 34 Sitze im Abgeordnetenhaus, Mussolini selbst gewann 178.000 Stimmen. Doch nachdem Giolitti erkannt hatte, daß die Linke keine Gefahr für sein politisches System mehr dastellte, ging er wieder gegen die Rechte, d.h. gegen den ehemaligen Verbündeten Mussolini, vor. Im Juli 1921 erklärte Giolitti: "Mit der Behauptung, es gebe in Italien noch eine bolschewistsche Gefahr, will man den Leuten Angst einjagen...der Bolschewismus ist endgültig besiegt...Und Faschismus bedeutet nicht mehr Befreiung, sondern Tyrannei."9) Im August 1921 versuchte Mussolini erneut eine Annäherung an das bürgerliche Lager - er hatte aber nicht mit dem Widerstand aus seinen eigenen Reihen gerechnet. Nahezu zeitgleich begannen seine lokalen Unterführer besonders brutal auf ihre Gegner einzuschlagen, um ihre Revolution nicht von Mussolini beenden zu lassen. Mussolini reagierte damit, daß er seinen Rücktritt als Parteivorsitzender erklärte und nichts weiter sein wollte als ein einfaches Mitglied der Mailänder Ortsgruppe. Aber mit einem Leben in der zweiten oder sogar dritten Reihe konnte und wollte sich der Duce10) nicht zufriedengeben. Im November arrangierte er sich wieder mit seinen lokalen Staathaltern und kehrte in die Parteileitung zurück, die er in Wirklichkeit niemals verlassen hatte.
    Mussolini schritt nun erneut zur Tat. Die Bedingungen waren für ihn ausgezeichnet. Die Popolari hatten die Unterstützung des Papstes verloren, die PSI war gespalten, und die Gewerkschaften bekämpften die Fragmente der PSI und die Popolari und deren Gewerkschaften. Mussolinis Feinde beschäftigten sich gegenseitig. Bereits im September 1921 war es den faschistischen Stoßtrupps unter der Führung Italo Balbos gelungen, Ravenna einzunehmen. Am 12. Mai 1922 wurde Ferrara von 63.000 Faschisten besetzt, und am 29. Mai marschierten 20.000 Faschisten in Bologna ein (Städte wie Florenz - genannt Faschistopolis - Perugia und Pisa standen schon seit langem unter faschistischer Kontrolle)11). Der militärische Arm der faschistischen Bewegung hatte eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie leistungsfähig er war - bzw. wie schwach die Zentrale in Rom war, gegen den Terror vorzugehen und wie unfähig die Gegner der Faschisten waren, gegen die wohlorganisierten Squadri zurückzuschlagen.
    Im August 1922 rangen sich die Sozialisten endlich dazu durch, einen Generalstreik auszurufen, doch es war bereits zu spät. Sie lieferten Mussolini nur den Vorwand, um letzten Endes alle Gegner mit einem Schlag vernichten zu können. Mussolini verlangte von der Regierung Facta12) die Niederschlagung des Streiks, oder die Faschisten würden diese Arbeit übernehmen. Die Regierung unternahm nichts, und die Faschisten spielten sich als Retter des Vaterlandes auf, indem sie ihre Leute als Streikbrecher einsetzten und so z.B. den Betrieb der Straßenbahnen aufrecht erhielten - allerdings ohne Fahrscheine zu verkaufen. Mehr als 100 Büros der PSI gingen im ganzen Lande in Flammen auf.
    Um die gespannte Lage etwas zu beruhigen, wurde D´Annunzio, der sich inzwischen von Mussolini distanzierte, von Seiten der Regierung Facta der Vorschlag unterbreitet, mit einem Trupp Kriegsverstümmelter symbolisch in Rom einzumarschieren und so an die Opfer der Soldaten für das Vaterland zu erinnern. Zweifelsohne sollte so der nationalen Stimmung für Mussolini der Wind aus den Segeln genommen werden. Dazu kam es allerdings nicht mehr. Am 16. 0ktober 1922 ernannte Mussolini de Vecchi, Bianchi, Balbo und den General de Bono zu seinen Stabsoffizieren, die den Marsch auf Rom vorbereiten sollten13). Am 24. Oktober fiel auf dem faschistischen Parteitag in Neapel die Entscheidung der vier oben genannten Männer, den sog. Quadrumvirn, auf Rom zu marschieren14). Die Führung übernahm natürlich Benito Mussolini. Die Operation begann am 28. 0ktober 1922. Die Männer, die in Richtung Rom marschierten, waren schlecht ausgerüstet, kaum mit Nahrungsmitteln versorgt, über (einsatzfähige) Waffen verfügten sie auch nicht, das Ganze dürfte eher an eine schwarz behemdete Kombination aus Spektakel und deutscher Kirchentags-Ernsthaftigkeit erinnert haben. Vom militärischen Standpunkt aus war die Operation ein völliges Fiasko, politisch hingegen ein Triumph - der Erfolg kam jedoch durch das Verhalten König Viktor Emanuels III zustande. Ministerpräsident Facta verlangte vom Kö nig die Erklärung des Ausnahmezustandes, doch der König lehnte ab und gab so Rom den Angreifern frei15).
    Mussolini hatte hingegen in kluger Erkenntnis der eigenen Schwä che sein Hauptquartier in Mailand aufgeschlagen - sehr nah der Schweiz ...(der Planungsstab der Faschisten lag in der Nähe Perugias). Am Abend des 28. Oktober 1922 verständigte Mussolini den Direktor des Corriere della Sera, Luigi Albertini, bereits über einen Entwurf seiner Regierungsliste. Am 29. Oktober wurde Mussolini über seine Designation als Ministerpräsident Italiens informiert. In einem Schlafwagenabteil machte sich der ehemalige linksradikale Aufrührer und zukünftige Regierungschef Italiens auf in Richtung Rom - um seine eigene Revolution siegreich zu beenden. Am 30. 0ktober präsentierte er die neue Regierung, Mussolini übernahm das Innen- und das Außenministerium, die weniger wichtigen Regierungsposten wurden auf Vertreter der Popolari (2), der Demokraten (2), der Nationalisten (1), der Liberalen (1), Unabhängige (1), Militärs (2) und Faschisten (3) verteilt. Mussolini hatte auch zwei Sozialisten Posten angeboten, doch diese hatten abgelehnt16). Dem Duce war es gelungen, eine Regierung der parlamentarischen Kollaboration zu installieren. Damit hatte er seinen Umsturz zum Erfolg geführt. Die faschistischen Falken hingegen wurden kurz vor der völligen Zerschlagung aller demokratischer Strukturen zurückgepfiffen. Bis dahin sollten noch knapp zwei Jahre vergehen. Seinen Erfolg feierte Mussolini Ende 1922 mit Sprüchen, nicht mit Taten. So erklärte er, nachdem er vom Kö nig den Auftrag erhalten hatte, eine neue Regierung zu bilden, gegenüber dem Parlament, es sei nur ihm zu verdanken, daß "das Parlament nicht in ein Feldlager seiner Leute verwandelt worden sei"17).
    Die anwesenden Parlamentarier waren sichtlich beeindruckt und sprachen der neuen Regierung mit 306 : 116 Stimmen das Vertrauen aus. Mit Ja stimmten unter anderen Bonomi, Giolitti, Orlando, Salandra und Alcide de Gaspari. Die faschistische Machtergreifung fand die Zustimmung der verfassungsmäßigen Parteien und des alten Systems.

    X. Von der Regierung zum Regime

    So wie der Weg der faschistischen Bewegung von der Wirtschaftskrise begünstigt wurde, so sicherte die günstige Konjunktur ab 1923/24 seine Festigung. Mussolinis Wirtschaftspolitik dieser Zeit bestand darin, den Industriellen möglichst freie Hand zu lassen. Der Finanzminister der Regierung Mussolini erhob das Laissez-faire zum ökonomischen Gesetz. Die namentliche Registrierung des Aktienbesitzes wurde aufgehoben, die Erbschaftssteuer herabgesetzt, die Telephongesellschaften reprivatisiert und die Löhne gekürzt1). Die Schutzzölle wurden, insbesonders beim Getreide, erhöht, und 1925 gelang es, den Kurs der Lira zu stabilisieren. Diese Maßnahmen verringerten das Zahlungsbilanzdefizit und schufen beachtliche Devisenreserven. Die Produktion der Industrie konnte im Vergleich von 1919 zu 1922 um 50 % gesteigert werden. Die chemische Industrie und der Automobilbau wiesen die größten Wachstumsraten auf. Die gesteigerte Industrieproduktion garantierte Neueinstellungen, die Arbeitslosigkeit in den industriellen Zentren des Landes nahm ab, und die Zustimmung der Arbeiter zur Regierung Mussolini stieg. Die gute Situation der italienischen Wirtschaft, die Zustimmung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Wirtschaftpolitik und die daraus resultierende Unterstützung der Regierung Mussolini ermöglichte den Faschisten die Zerschlagung der Reste des alten liberalen Staates und die Errichtung eines autoritären Regimes. Im Januar 1923 wurde eine Freiwilligenmiliz gegründet, die das neue Zuhause für die alten Kameraden von den Squadri werden sollte. Dann erfolgte die Umwandlung des Gran Consiglio del Fascismo in ein Staatsorgan2). Neben dem Parlament gab es nun ein von Mussolini ernanntes Beratergremium und parallel zum Heer eine faschistische Miliz. Im April 1923 wurden die Minister der Popolari aus der Regierung entfernt, und im Juli wurde ein neues Wahlgesetz verabschiedet, la legge Acerbo3), welches die Liste der Regierungskoalition und somit die Faschisten bevorzugte. Die neue faschistische Miliz bewies ihre Stärke bei den Wahlen im April 1924. Den Milizionären gelang es, ein Klima der Einschüchterung und Gewalt zu erzeugen und so die Wähler der Oppositionsparteien unter Druck zu setzen. Mussolini gewann die Wahlen, die Ergebnisse blieben aber hinter seinen Erwartungen zurück. Besonders in Norditalien und den industriellen Zentren des Landes überwog der Stimmenanteil der Opposition4). Der Wahlterror der Faschisten veranlaßte den Generalsekretär der Sozialistischen Partei Italiens und Abgeordneten Giacomo Matteotti zu der berühmten Rede vom 30. Mai 1924, in der er die faschistische Gewalt während des Wahlkampfes anprangerte5).
    Einige Tage später verschwand Matteotti - am 16. August wurde seine Leiche in einem Gebüsch in der Romagna gefunden. Als Entführungs- und Todestag wurde der 10.06.1924 ermittelt.
    Für einen kurzen Moment schien Mussolini isoliert und am Ende. Die Abgeordneten der Opposition verließen das Parlament im sogenannten Auszug auf den Aventin6). Selbst Faschisten der ersten Stunde ließen ihre Parteiabzeichen verschwinden. Es gelang der Opposition jedoch nicht, das Land aufzurütteln und dem Volk eine Alternative zu Mussolini aufzuzeigen. Die Angst vor einer Machtübernahme der Bolschewisten war zu groß, bürgerliche Parteien oder Politiker kamen als Alternative zu Mussolini anscheinend gar nicht erst Frage. Sie hatten sich zu sehr vom faschistischen Staat vereinnahmen lassen. Zudem entzog der König Mussolini nicht das Vertrauen, und der Vatikan verhielt sich während der Matteotti-Krise Mussolini gegenüber wohlwollend neutral. Mussolini gelang es nach Tagen der Apathie, das Ruder herumzureissen. Unterstützung wurde ihm besonders von den von ihm so verachteten lokalen Unterführern zuteil. Im August veranstalteten Schwarzhemden aus Bologna einen Aufmarsch vor dem Palazzo Chigi - zu einer Zeit, als man das Parteiabzeichen der PNF in Rom so gut wie nirgendwo mehr sehen konnte - und forderten von Mussolini, das Schwungrad der faschistischen Revolution nicht weiter aufzuhalten. Aber nicht die Unterstützung seiner Kampfgruppen, sondern die indirekte Hilfe durch König und Vatikan gaben ihm das Vertrauen zurück. Am 31. August tönte Mussolini in einer Rede: "...Die Oppositionsparteien, das versichere ich Euch, sind alle miteinander vollkommen machtlos. An dem Tag, da sie von ihrem lä stigen Geschwätz zu konkreten Tatsachen übergehen sollten, machen wir aus ihnen Streu für die Zeltlager unserer Schwarzhemden."7) Die Vertreter des Provinzfaschismus, besonders aus der Toscana, machten weiter Druck. Die Miliz-Konsuln wurden von Mussolini Silvester 1924 empfangen, zu dem Zeitpunkt, als eine Schrift von Cesare Rossi erschienen war, die alle faschistischen Organisationen in Verbindung zum Mattteotti-Mord setzte und drei Tage vor der Wiedereröffnung des Parlaments. Unter der Hand plante die zweite Riege der Faschisten eine Wiederholung des Marsches auf Rom.
    Am 3. Januar 1925 hielt Mussolini eine Rede vor dem Rumpfparlament und übernahm darin die volle Verantwortung für die Geschehnisse, die zum Tode Matteottis führten:
    "...ich erkläre hier vor dieser Versammlung und vor dem ganzen italienischen Volk, daß ich, ich allein die politische, moralische (und) historische Verantwortung für das, was geschehen ist, auf mich nehme. Wenn der Faschismus eine Verbrecherbande ist, dann bin ich der Anführer dieser Verbrecherbande." Dann folgte eine Forderung, ihn, Mussolini, gemäß Art. 47 der Verfassung anzuklagen. Mussolini fuhr weiter fort: "Wenn zwei Elemente in Streit miteinander geraten und beide unbeugsam sind, dann ist die Lösung Gewalt...Seid versichert, daß in 48 Stunden, die auf meine Rede folgen, die Lage auf der ganzen Ebene geklärt sein wird." 8) Die Opposition unternahm nichts - gar nichts - um mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den Schwerverbrecher Mussolini, denn als solcher hatte er sich zu erkennen gegeben, vorzugehen. Mussolini hatte erneut das Recht des Handelnden wiedererlangt. In den folgenden Tagen wurden 95 politische Zirkel und 25 systemkritische Organisationen verboten, 150 öffentliche Lokale geschlossen, 665 Haussuchungen und 111 Verhaftungen durchgeführt9). In den folgenden Monaten (bes. im November) kamen Dekrete und Gesetze zur Abstimmung, die fascistissime waren10):
    • Geheimorganisationen wie die Freimaurer wurden verboten.
    • Die Parteien wurden einem Koalitionsgesetz unterworfen.
    • Die Pressefreiheit wurde aufgehoben, und ein pro-faschistischer Berufsverband für Journalisten wurde geschaffen.
    • Die Parlamentarier des Aventin wurden aus dem Parlament ausgeschlossen.
    • Politisch verdächtige Beamte wurden aus dem Staatsdienst entfernt.
    • Bürgermeister wurden nicht mehr gewählt, sondern ernannt.
    • Eine politische Polizei, Ovra (Organizzazione di Vigilanza e Repressione dell´Antifascismo) genannt, wurde eingerichtet.
    • Politische Sondergerichte wurde geschaffen - den Vorsitz führten Militärrichter.
    • Der Duce erhielt durch ein Sondergesetz einen dominierenden Status gegenüber den anderen Ministern.
    Italien war nunmehr ein autoritärer Staat.
    Selbst die italienischen Gewerkschaften übten sich in Selbstkasteiung und kooperierten mit dem Regime. 1926 wurde die Gesetze erlassen (April und Juli), die Streiks und Aussperrungen untersagten. Schon zuvor hatte der faschistische Großrat die Schiedsgerichtsbarkeit auf besondere Arbeitsgerichte übertragen. Parallel dazu wurde die Arbeitszeit wieder auf neun Stunden heraufgesetzt, während die Lohnerhöhungen nicht mit den steigenden Lebenshaltungskosten Schritt hielten. Am 21. April 1927 wurde die Carta del Lavoro verabschiedet, die rechtliche Grundlage für den angestrebten Korporativismus11). Ein neues Wahlgesetz forderte die Wahl für die Abgeordnetenkammer auf ebenfalls korporativer Ebene.
    Zu Beginn des Wahlverfahrens benannten die Berufsstände Kandidaten. Aus diesen Vorschlägen wählte der faschistische Großrat 400 Namen aus, die zur Wahl gestellt wurden. Weitere Listen gab es nicht. Am 9. November 1926 wurden, auf Antrag Farinaccis, die Mandate und somit auch die Immunität der Opposition aufgehoben12).
    Seit der ersten Rede des Abgeordneten Mussolini in der Kammer 1921 fiel den Abgeordneten auf, daß von den alten radikal-sozialistischen Haßtiraden gegen die "Pfaffen" und den Vatikan wenig bzw. gar nichts mehr zu vernehmen war. Seit der Machtübernahme durch die Faschisten wurde der römisch-katholische Glaube von Gesetz wegen mehr und mehr unterstützt. So wurden die Gesetze gegen Gotteslästerung verschärft, und das Kruzifix erschien wieder in den Klassenzimmern und den Gerichten, die Konfessionsschulen und die katholische Universität von Mailand wurden staatlich anerkannt, der Religionsunterricht an den Volksschulen wurde wieder eingeführt, die Truppe und die Miliz erhielt Feldgeistliche, der Klerus wurde vom Militärdienst befreit, und die Scheidung wurde erschwert.
    1923 führte Mussolini ein Gespräch mit dem Kardinalstaatssekretär (Außenminister) Pietro Gasparri, in dem vage über eine Bereinigung des Kirchenkonfliktes diskutiert wurde. Mussolini soll bereits zu diesem Zeitpunkt Gasparri die staatliche Anerkennung der spärlichen Reste des ehemaligen Kirchenstaates angeboten haben. 1926 eklärte Papst Pius XI gegenüber Gasparri, daß solange der grundsätzliche Konflikt des italienischen Staates mit dem hl. Stuhl nicht geklärt sei, der Vatikan dem italienischen Staat und seiner, an sich positiven, Kirchengesetzgebung nicht entgegenkommen könne13). Kurzfristig kam die Annäherung zwischen Vatikan und Regierung ins Stocken, bis Mussolini die Initiative wieder ergriff.
    Eine Kampagne zur Hebung der öffentlichen Moral im Lande sollte im Vatikan den Eindruck erwecken, daß Mussolini der oberste Moralist sei (allein in Rom wurden 53 Bordelle geschlossen, 5000 Kinderheime wurden im ganzen Land neu errichtet und Weinverkäufer, die Alkohol an Kinder verkauften, wurde die Lizenz entzogen)14). Überdies wurde er seit seinem Regierungsantritt nicht müde, die rö misch-katholische Kirche als eine der tragenden Säulen der italienischen Nation hinzustellen. Häufig gebrauchte er das Argument, daß des Menschen Geist auch nicht vom Körper getrennt werden könne, genauso lä cherlich sei der Wunsch der Agnostiker und der Liberalen, die römisch-katholische Kirche von der italienischen Nation abtrennen zu wollen15). Sein ganz persönliches Opfer brachte Benito der Kirche dar, als er sich Weihnachten 1925 mit Rachele kirchlich trauen ließ.
    Die Ausarbeitung des Vertrages und des Konkordates oblag in den folgenden Jahren (vom 4. Oktober 1926 datiert eine Anweisung Mussolinis) besonders zwei Männern, Prof. Pacelli (als Anwalt des Konsistoriums) und Domenico Barone (als Generalbevollmächtigter der Regierung). Nach dessen Tod im Januar 1929, als der Erfolg der Verhandlungen schon greifbar nahe war, übernahm der Duce persönlich die Verhandlungsführung.
    Am 11. Februar 1929 empfing Gasparri im Sala delle Missioni die Vertreter der Regierung. Zuerst unterschrieb Gasparri, dann der Duce. Die Erwartungen des Vatikans hatten sich erfüllt. Ratifiziert wurde das Vertragswerk, nachdem beide Parteien noch heftigst gegeneinander gestritten hatten, am 7. Juni 1929. In den Lateranverträgen und im Konkordat16) machte das faschistische Italien der römichen Kirche folgende Zugeständnisse:
    • Der faschistische Staat erkannte die Souveränität des Papstes über die Vatikanstadt (0,44 Quadratkilometer) an.
    • Er verpflichtete sich zu einer umfangreichen Alimentierung des Vatikans, so entschädigte der italienische Staat den Vatikan für die Verluste von 1870 mit 1,75 Milliarden Lire (zum Teil bar, zum anderen Teil in Staatsobligationen).
    • Der römische Katholizismus erhielt wieder den Rang der Staatsreligion.
    Im Gegenzug erklärte der apostolische Stuhl die römische Frage für gelöst, d.h. er verzichtete auf die weltliche Macht im Lande (sogar die Ernennung von Bischöfen bedurfte nun der Einwilligung der Regierung, die zudem noch einen Treueid auf den Staat, den Kö nig und die Regierung verlangte) und stimmte einem Konkordat zu, welches die kirchliche Eheschließung mit der zivilen gleichstellte und an den öffentlichen Schulen den katholischen Religionsunterricht einführte. Die Lateranverträge trugen ganz erheblich zur Festigung des faschistischen Staates bei, denn endlich war die Versöhnung von Kirche und Staat gelungen.
    Nicht alle Faschisten waren von den Verhandlungen mit der Kirche begeistert und erst recht nicht einverstanden mit den Ergebnissen.
    Mussolini mußte noch im November 1926 erleben, wie faschistische Stoßtrupps katholische Einrichtungen angriffen und dort randalierten. Der Papst richtete deshalb bittere Vorwürfe an ihn. Unklugerweise ließ Mussolini die Situation noch weiter eskalieren. Im Dezember 1926 wurde ein Gesetz verabschiedet, welches dem Staat das Monopol der Jugenderziehung gab. Die katholischen Jgendverbände sollten aufgelöst und die gesamte italienische Jugend sollte in der Balilla politisch und körperlich erzogen werden17). Der Papst forderte von Mussolini die Annullierung des Gesetzes, der Duce lehnte jedoch ab. Es folgte eine scharfe Antwort des Papstes. In aller Offenheit griff er den faschistischen Staat an, und erklärte die christliche Erziehung für gefährdet. Damit brach Pius XI den Stab über den Totalitarismus des faschistischen Staates. Mussolini reagierte, indem er seinen pro-katholisch eingestellten Bruder Arnaldo zum Chefredakteur des Popolo d´Italia ernannte und so die Wogen glättete. Im Januar 1927 beendete der Papst, immer noch erzürnt über das Ballila-Gesetz, vorläufig die Verhandlungen - inoffiziell blieben die beiden Parteien in Kontakt. Am 21. Januar 1928 wurden die Gespräche wieder aufgenommen.
    Mussolini gelang im Mai 1929 während einer Rede in der Kammer wieder eine Annäherung an den anti-klerikalen Flügel seiner Partei. In dieser Rede verschmähte er in aller Öffentlichkeit das Papsttum und die gesamte katholische Kirche18). Noch einen Tag vor der Ratifizierung des Vertrages, am 6. Juni 1929, veröffentlichte der Vatikan ein Schreiben des Papstes, in welchem dieser der Vertrags- und Konkordatsinterpretation Mussolinis heftig widersprach.
    Im März 1929 nutzte Mussolini die Gunst der Stunde nach der Vertragsunterzeichnung im Februar und schrieb Neuwahlen aus. Zur Wahl am 24. März 1929 stand allerdings nur Mussolinis Einheitsliste. Es gab 8.506.576 Ja-Stimmen bei nur 136.198 Nein-Stimmen19). Die Wahlbeteiligung lag bei 89,63 Prozent.
    Das Ansehen des faschistischen Staates hatte bei den Italienern seinen Höhepunkt erreicht, denn:
    • Die Ordnung im Inneren war wieder hergestellt.
    • Mussolini war in den Augen der Bevölkerung für den Wirtschaftsaufschwung verantwortlich.
    • Den Faschisten war es gelungen, die Versöhnung des italienischen Nationalstaates mit dem Vatikan herbeizuführen.
    International galt der Faschismus, trotz seiner Aggressivität - die richtete sich bis zum Abessinienkrieg lediglich gegen die eigene Bevölkerung - und des übertriebenen Nationalismus als starke Bastion gegen den Kommunismus und wurde dementsprechend hofiert. Am 20. Juni 1927 erklärte der britische Schatzkanzler, Winston Churchill, wäre er Italiener, hätte er nicht gezögert, von Anfang an Faschist zu sein20).

    XI. Versuch einer Bewertung

    Der Erfolg des italienischen Faschismus ist nicht einzig nur auf die Nachkriegswirren der Jahre 1918-1922 zurückzuführen. Die Unruhen waren in den meisten der am Kriege beteiligten Staaten brutaler1).
    Die italienische Nationalgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. war, vom militärischen Standpunkt aus gesehen, eine Ereigniskette von Mißerfolgen2). Dem italienischen Militär war es nicht gelungen, gegen den österreichischen "Erbfeind" einen Sieg mit dem von Sedan vergleichbar zu erfechten, der ähnlich identitätsstiftend hätte sein können. Die Niederlage von Adua gegen eine Streitmacht von Eingeborenen war für die innerlich wenig gefestigte, aber bereits imperialistisch orientierte und nationalbewußte italienische Öffentlichkeit ein Trauma. Die Zerrissenheit der italienischen Außenpolitik zwischen der vernunftmäßigen Anlehnung an das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn und andererseits das Gefühl, zu den imperialistischen Großmächten gehören zu müssen, führte zu einer Stimmung von Machtbewußtsein, aber gleichzeitig auch zu einem Minderwertigkeitskomplex der classe dirigente. Italiens Regierungen versuchten in verschiedenen Kriegen und Scharmützeln noch einen Platz an der Sonne zu erlangen3). Im Vegleich zu seiner Vergangenheit, die wenig übrig hatte für das Soldtische4), war Italien militarisiert.
    Der moralische Bankrott des Sacro Egoismo, der zum Kriegseintritt führte, die Zurückdrängung des Parlamentarismus während des Krieges, die großen Leiden der italienischen Bevölkerung und der Soldaten und (was in den meisten Darstellungen vernachlässigt wird) Caporetto5) führten zu einem politischen Vakuum, als der Krieg beendet worden war. Die bürgerliche classe dirigente hatte allzu offenkundig versagt.
    Zwei Heilslehren versuchten nun dieses Vakuum auszufüllen und die Enttäuschung der Italiener über den Ausgang des Krieges auszunutzen, nämlich der linksradikale Sozialismus italienischer Schattierung und Mussolinis nationaler Sozialismus, der Faschismus. Die Erfolge der linksradikalen Aktionen verwandelten sich alsbald in Pyrrhussiege. Aufgeschreckt von den Fabrikbesetzungen, wilden Landenteignungen, dem harten Auftreten der linken Landarbeitergewerkschaften, Streiks des öffentlichen Dienstes und den links-motivierten Attentaten gegen die Vertreter der alten Ordnung unterstützte die bürgerliche Klasse und auf dem Lande die Agrarier die anti-liberalen rechten Gruppen, um so das Land vor der (eingebildeten) bolschewistischen Gefahr zu retten.
    In diesem Kontext führt Ernst Nolte zwei Ursachen für den Sieg des Faschismus in Italien ins Feld: "Nur der italienische Faschismus führte den Kampf...selbst; und nur er wurde von einer ratlosen Regierung unterstützt, ja gefördert. Das Zusammentreffen dieser beiden Umstände hebt ihn aus allen anderen faschistischen Bewegungen heraus und bildete die Grundlage seines Aufstieges."6). Einerseits machte dieser bürgerliche Philofaschismus, dem Männer wie Luigi Albertini, Benedetto Croce und auch Giovanni Giolitti anhingen - zumindest bis zur faschistischen Machtergreifung - die PNF erst salonfähig, und andererseits ermöglichte die Unterstützung der alten Eliten das rabiate Vorgehen der Squadri. Der Nährboden, auf dem D´Annunzio und Mussolini heranwachsen konnten wurde von der classe dirigente selber vorbereitet. Mussolinis kluges Handeln setzte ihn an die Spitze der nationalen anti-sozialistischen Bewegung, die ihn an die Macht bringen sollte. Mussolini gelang es seiner PNF, jene Originalität zu geben, die für den Zusammenhalt einer Partei wichtig war und ist.
    Einerseits beerbte er den Nationalisten und Bürgerschreck D´Annunzio, was Rhetorik und Propaganda anging, andererseits gelang Mussolini die Überführung linker und syndikalistischer Programmpunkte in die (wechselnden) Programme der faschistischen Partei. Die Quadratur des Kreises der italienischen Politik der frühen 20er Jahre, die Verknüpfung von nationalistischen und sozialistischen Ingredienzien machte einen großen Eindruck auf aktive Faschisten, Mitläufer und nicht zuletzt die Wähler. Das kluge Taktieren des Opportunisten Mussolini, der seine linken Parolen auch zurückstellen konnte, wenn es die Situation verlangte, so vor dem Marsch auf Rom und bei den Verhandlungen mit dem Vatikan, brachte den Parteiführer und späteren Diktator an die Macht.
    Der Weg zur Macht führte für Mussolini über die Stationen des Avanti, des Interventionismus und des Niederringens des Bolschewismus in Italien. Nach dem Marsch auf Rom und dem Versagen Factas, als es keinen italienischen Bolschewismus mehr gab, mußte sich Mussolini einem sehr viel gefährlicheren Gegner zuwenden: dem italienischen Liberalismus7). Der Gegner des Faschismus der Jahre 1919-1922, des Movimento, war der italienische radikale Sozialismus. Der Leitgedanke der Kämpfe in diesen drei Jahren war die politische Gegnerschaft und die positive Propagandawirkung bei den bürgerlichen Schichten. Mussolinis, bzw. jener der PNF, Kontrahent nach 1922 war die vom liberalen Staat gesicherte individuelle Freiheit. Der liberale Individualismus mußte vom faschistischen Staat zerschlagen werden, um den faschistischen Menschen erschaffen zu können. Die Gesetzgebung (besonders nach dem Mord an Matteotti), der Aufbau der Balilla, der Zusammenschluß der Arbeiter, der Arbeitgeber und aller gesellschaftlichen Gruppen in faschistischen Verbänden bezweckte die Einflußnahme auf jedes einzelne Individuum.
    Die Jahre 1923 bis 1929 brachten die Gleichschaltung von Judikative, Exekutive und Legislative. Das alte liberale Italien hatte aufgehört zu existieren.

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